Er schaute auf seine Uhr und stellte fest, dass es schon vormittags war. Velon legte die Zeitschrift zurück, reckte sich und ging auf die Terrasse hinaus. Von der alten Gärtnerin war nichts mehr zu sehen. Ach’tun hatte den Tisch für das Frühstück gedeckt und erschien wie auf ein geheimes Kommando, als sich Velon hinsetzte. Nach der üppigen Mahlzeit, die aus vielen Früchten, Fisch und einer scharfen Reissuppe bestand, schlenderte Velon durch den Garten bis zur Grundstücksgrenze. Ein schmaler Fußweg führte hinter dem halbhohen Zaun aus Flechtwerk, der das Grundstück der Villa einfasste, entlang. Unter den hohen Bäumen wuchsen Farne, die größer als er waren, und Sträucher mit duftenden Blüten, die von schwarz-gelben Hautflüglern besucht wurden. Auf der Erde waren Bienen und Hummeln längst ausgestorben und ihre Arbeit wurde von winzigen Drohnen verrichtet, die sich automatisiert um das Bestäuben der Blüten kümmerten. Eine Weile sah er einem dicken Insekt, das er für eine Hummel hielt, dabei zu, wie es brummend von Blüte zu Blüte flog. Es schwankte erstaunlich unkoordiniert durch die Luft, als müsste es gleich zur Notlandung ansetzen. Die Drohnen auf der Erde flogen lautlos und mit einprogrammierter Zielstrebigkeit. Das Tier hier sollte vom Aussehen her nicht mal in der Lage sein, zu fliegen. Mit einem Mal änderte das Insekt spontan seinen Kurs und prallte ihm gegen die Stirn. Erschrocken sprang Velon zurück, aber dem Tier schien nichts passiert zu sein. Unbeeindruckt setzt es seinen Weg fort. Lächelnd rieb er sich die Stirn und ging weiter.
Nach wenigen Minuten Fußweg erreichte er den Strand. Ein schmaler Streifen bläulichen Sandes reichte bis zu dem funkelnden, grünblauen Wasser, in dem unzählige andere kleine Inseln verstreut lagen. Außer ihm schien sich weit und breit niemand am Strand aufzuhalten. Er schlüpfte aus den Schuhen und ließ sie an Ort und Stelle zurück. Der feine Sand unter seinen Fußsohlen war warm und drang zwischen die Zehen, es ließ sich aber angenehm in ihm gehen. Als Velon das glitzernde Wasser erreichte, watete er ohne zu zögern hinein.
Das Meer war so klar, dass man die entfernten Korallen erkennen konnte. Bunte Fische flohen vor seinen unbeholfenen Bewegungen und weiche Unterwasserpflanzen wogten in der leichten Strömung. Er ging so weit, bis er den Boden unter den Füßen verlor, und schwamm dann mit einigen kräftigen Zügen hinaus.
Es ist herrlich! Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal im offenen Meer schwimmen war?
Seine dünne Kleidung war nicht schwer und störte ihn kaum, sodass er bis zu einem Felsmassiv kraulte, das eine kleine Insel in Sichtweite des Strandes bildete. Prustend zog sich Velon an Land. Das Gestein war warm und unter dem blauen Himmel brauchte er nicht zu frieren. Er rollte sich auf den Bauch und beobachtete die vielen Fische, die an der abfallenden Felswand zwischen den bunten Pflanzen hin- und herschwammen. Der Meeresboden mochte knapp acht Meter tief sein und doch konnte Velon jede Kleinigkeit erkennen. Sein Körper war angenehm schwer. Er drehte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen, das leise Platschen der Wellen im Ohr.
Als er die Augen wieder öffnete, war seine Kleidung getrocknet. Er musste eingeschlafen sein. Velon setzte sich auf und sah zufrieden über das Meer hinaus. Er fühlte sich wie der einzige Mensch auf dem Planeten. Was sind wir doch für Narren gewesen, dachte er.
Mit einem Kopfsprung hechtete er in das schillernde Nass und tauchte mit weitausholenden Arm- und Beinbewegungen durch die fremdartige Unterwasserlandschaft. Der Boden unter ihm war sanft gewellt und voller Korallen und ihm unbekannter Seepflanzen, deren hellgrüne schmale Blätter in der Strömung schaukelten. Er überschwamm er eine Senke von knapp vier Metern Tiefe, in der ein Schwarm von kleinen, bunten Fischen schillernd vorüberzog. Velon kannte sie in der freien Wildbahn nur von alten Aufnahmen oder als Gericht auf seinem Teller. Sie aber mit eigenen Augen zu erblicken, wie sie nur wenige Meter entfernt im offenen Meer an ihm vorbeischwammen, war ein überwältigendes Gefühl. Wie auf ein Kommando hin änderten die Fische ihre Schwimmrichtung, als wären sie ein einziger großer Organismus. Das Sonnenlicht glitzerte auf ihren Körpern und Velon wurde fast schwindelig vom Zusehen. Keuchend tauchte er auf und ließ sich auf der sanft wogenden Wasseroberfläche treiben, bis er spürte, wie er allmählich auskühlte.
Seine Schuhe lagen noch am Waldrand. Sie anzuziehen kam ihm überflüssig und einengend vor, und so knotete er die Schnürsenkel aneinander und hängte sie sich über die Schultern. Die nasse Kleidung war angenehm auf seiner Haut, während er im lichten Schatten der tropischen Bäume den schmalen Pfad zur Villa zurückging. Der Gesang der Wach’tins erklang über ihm und er legte den Kopf in den Nacken, um den affenähnlichen Wesen beim Sprung von einer Baumkrone zur nächsten zuzusehen. Kleine, graue Gestalten, mit acht langen Gliedmaßen und einem Greifschwanz, den sie geschickt beim Schwingen von Ast zu Ast einsetzten. Ihr Rufen hallte durch den Wald und wurde von einigen Artgenossen weiter hinten aufgenommen, sodass die ganze Insel von ihrem Gesang widerhallte.
Der laue Wind brachte einen aromatischen Duft mit sich. Etwas tiefer im Wald entdeckte Velon große Sträucher, an denen violette Blüten wuchsen. Die Blumen hatten sich im Halbschatten der dichten Baumkronen geöffnet und strömten einen Geruch nach Weihrauch, Sandelholz und etwas aus, das Velon nicht benennen konnte. Eine Gestalt bewegte sich zwischen den Sträuchern und er erkannte La’lyn, die dort mit einem Korb umherging und behutsam die Blüten pflückte. Sie sprach dabei leise und eindringlich mit den Pflanzen, jede Blüte führte sie kurz an ihre Lippen, bevor sie sei zu den anderen in den Korb legte. Velon winkte ihr zu, aber sie sah ihn nicht und so ging er langsam weiter.
Als er den großen Garten der alten Villa betrat, war sein Hemd wieder getrocknet. Ach’tun hatte auf der Terrasse das Mittagessen vorbereitet. Im Schatten einer hellen Markise stand der gedeckte Holztisch mit unzähligen Schüsseln und Tellern, die zum größtenteils schon gefüllt waren. Während Velon die Stufen zur Terrasse hochschritt, kam ihm Ach’tun entgegen und legte die Hände lächelnd zusammen.
»Wie ich sehe«, sagte er, »sind Sie am Strand gewesen!«
Unter dem luftigen Stoffdach war es angenehm kühl. Ach’tun goss ihm aus einem irdenen Krug die süße Milch der Ko’wen-Frucht ein, die schäumend das Glas füllte. Velon leerte das Glas auf einen Zug. Das Schwimmen im Meer und der Schlaf unter freiem Himmel hatten ihn durstig gemacht. Acht’un goss ihm sofort wieder nach.
»Ich werde das Meer vermissen!«, sagte Velon, als er ausgetrunken hatte.
»Das Meer ist gut zu uns«, antwortete Ach’tun. »Es ernährt uns und ist die Heimat für Pflanzen und Tiere.«
»Vor einigen Jahrzehnten«, sagte Velon, »sah es auf der Erde fast so aus wie hier. Es gab große Wälder und Plätze, die nicht bebaut waren ... Ein Luxus, den wir uns heute nicht mehr leisten können. Wussten Sie, dass wir sogar schon Flächen des Meeres mit schwimmenden Städten besiedelt haben, um allen Menschen einen Platz zum Leben zu geben?«
Der junge Mann sah ihn erstaunt an und schüttelte den Kopf.
»Die Ozeane auf der Erde sind nicht wie die Meere hier. Es gibt keine Fische mehr und auch die Unterwasserpflanzen sind ausgestorben. Ich könnte es nicht wagen, in ihnen zu baden, wenn ich nicht mit schweren Krankheiten oder Schlimmerem rechnen wollte.«
»Dann esst ihr keine Fische?«
»Doch, aber nicht mehr aus der freien Natur. Wir züchten sie in künstlichen Gewässern.« Velon blickte über die Wipfel der Bäume hinweg, hinter denen sich das endlose Meer erstreckte, und erinnerte sich daran, wie er als Junge mit seinen Eltern an der Nordsee gewesen war und dort in den Wellen geplanscht und die ersten Schwimmversuche unternommen hatte. Er war einer von der letzten Generation, die dieses Gefühl noch kannten. Heutzutage war selbst der Regen ein großes Problem, vor dem man sich schützen musste.
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