Er sah den schlanken Baumstamm empor, der sich astlos bis in die hohe Krone erstreckte. Der ganze Baum wiegte sich leicht im Wind und die Früchte befanden sich in luftiger Höhe. Ob sie Drohnen zuhilfe nahmen, um sie zu pflücken?
Als hätte sie seine Gedanken erraten, trat die Frau an den Baumstamm, wie um ihn zu umarmen, und verschränkte ihre Handflächen hinter ihm. Mühelos sprang sie an den Stamm und presste ihre nackten Fußsohlen gegen die raue Rinde. Ohne sichtbare Anstrengung kletterte sie den Baum hinauf. Erstaunt sah Velon ihr nach. Ihr Körper schien wie für die Bewegung gemacht zu sein. Das Spiel ihrer geschmeidigen Oberschenkelmuskeln zeugte von ausdauernder Kraft, während sie flink höher stieg. Oben angekommen, pflückte sie mit geübter Hand eine der Milchnüsse und warf sie herunter. Dann kletterte sie ebenso mühelos wieder nach unten. Auf ihrer Haut glänzte ein dünner Schweißfilm, dessen sich Frauen auf der Erde seit vielen Jahren schon mit genetisch angepassten Bakterien entledigten.
»Bei uns«, sagte sie, ohne außer Atem zu sein, »ist es Aufgabe der Frauen, die Früchte zu ernten.«
Sie bückte sich geschmeidig und hielt ihm die Ko’wen hin. Ihre Schale war fest und trocknen. Als er sie schüttelte, hörte er das Gluckern einer Flüssigkeit im Inneren.
»Der Saft ist weiß«, sagte sie. »Wir trinken ihn gerne am frühen Morgen oder tun ihn ins Essen.«
Velon reichte ihr die Ko’wen zurück und bedankte sich.
»Mein Name ist La’lyn«, sagte sie und legte die Hände zum rituellen Abschiedsgruß zusammen. »Ich werde sie dem Koch geben, damit Sie die Ko’wen zum Abendessen zu sich nehmen können.«
La’lyn drehte sich um und schlenderte zum Haus zurück. Er sah ihr eine Weile nach und wunderte sich, wie eine Frau ohne Schuhe sich so anmutig zu bewegen vermochte.
Velon schlug die Augen auf und blickte an die hohe Decke. Durch die offene Verandatür drang kühle Morgenluft und die Geräusche des Waldes. Automatisch wollte er auf seinen RID-Chip zugreifen, um sich die neuesten Nachrichten und den Posteingang anzeigen zu lassen, bis ihm bewusst wurde, dass der Chip ausgeschaltet war. Er gähnte ausgiebig und zog den dünnen Vorhang beiseite. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und das frühe Grau des neuen Tages zeichnete alles mit seinem weichen Licht. Kein Geräusch war zu hören, nur einige Wach’tins stießen ihre langgezogenen Rufe aus. Velon hatte überraschend gut geschlafen, trotz des üppigen Abendessens am Vortag, fühlte aber eine merkwürdige Unruhe, als würde sein Gehirn nach Informationen hungern. Es war viele Jahre her, dass er den RID-Chip deaktiviert hatte. Er kam sich vor wie auf einer einsamen Insel, abgetrennt vom Rest der Welt.
»Urlaub«, sagte er leise und trat auf die Terrasse hinaus.
Die palmenartigen Bäume zeichneten sich schwach vor dem dämmrigen Himmel ab und rosenähnliche Sträucher wucherten um einen Teich, den er gestern nur am Rande beachtet hatte. Eine Gartenlaube stand halb verborgen am hinteren Teil des Wassers. Die Luft auf der Terrasse war getränkt vom Duft der unzählig blühenden Büsche in den Holzeimern.
Velon ließ sich auf den Boden nieder und begann damit, seine morgendlichen Liegestütze zu absolvieren. Die Steinfliesen waren angenehm kühl unter den Händen. Akkurat und flüssig drückte er sich immer wieder von Boden hoch, ließ sich herabsinken, bis sein Brustbein die Erde berührte, und stemmte sich erneut in die Höhe. Bald merkte er, wie die Muskeln warm wurden und der letzte Rest von Müdigkeit von ihm abfiel. Wie üblich hörte er exakt bei der einhundertsten Wiederholung auf.
Als er sich erhob, sah er eine Frau über den Rasen des alten Grundstücks auf das Gebäude zukommen. Die gebeugte Gestalt schleppte zwei Wassereimer, die sie mit geübtem Gang in ihren sehnigen Händen trug. Während sie die fünf flachen Stufen zur Terrasse hochstieg, sah er, dass die Frau sehr alt war und nur aus Haut und Knochen bestand, als hätte die Sonne alles überflüssige Fleisch verdorren lassen. Sie blieb oben einen Moment stehen und verschnaufte ein wenig. Ihre grauen Haare waren zu einem langen Zopf gebunden, einen Schutz gegen die Hitze trug sie nicht. Als ihre zusammengekniffenen Augen seiner gewahr wurden, gab sie sich einen Ruck und schleppte die beiden Eimer ohne ihn zu grüßen zu einem Kübel, in denen einer von den prächtig blühenden Büschen wuchs. Ihr Verhalten stand so sehr im Widerspruch zu der vorherrschenden Höflichkeit auf Cela 14, dass Velon mehr interessiert als verstimmt reagierte. Ohne sich um ihn zu kümmern, begann sie damit, die Pflanzen zu gießen, eine Aufgabe, der sie sich mit voller Aufmerksamkeit widmete. Velon beobachtete die Bedienstete, die mit zusammengepressten Lippen die Eimer zu einer weiteren Pflanze schleppte. Ihm kam die schlichte Tätigkeit reizvoll vor und er fragte sich, ob diese alte Frau ihr Leben damit zugebracht hatte, den üppigen Garten auf einem der schönsten Planeten des Systems zu pflegen. Er wusste natürlich, dass er der romantischen Vorstellung einer einfachen Existenz verfiel, wenn er sich dieses Leben vorstellte, aber für einen Moment fragte er sich, ob ein solches Leben nicht das bessere gewesen wäre. Arm und glücklich! Amüsiert schüttelte Velon den Kopf und ging wieder hinein.
Er schlenderte durch das leere Haus mit der Muße eines Menschen, der nichts zu tun hatte. Velons unruhiger Geist sehnte sich immer noch nach dem Input des Chips, und so lenkte er seine Gedanken bewusst auf jedes Detail der äußeren Umgebung. Er kam an einem weiteren Zimmer vorbei, stockte und schüttelte ungläubig den Kopf. Velon trat langsam ein und warf nur einen kurzen Blick auf die die hohen Fenster und die bequemen Sessel und Liegen. Auf vier niedrigen Tischchen lagen Zeitschriften. Er lächelte und nahm eine von ihnen zur Hand.
»Auf Papier«, murmelte er und ließ seine Finger über die Seiten streichen.
Er hatte davon gehört, aber es mit eigenen Augen zu sehen war etwas ganz anderes. Das Papier raschelte leise unter den Fingern und schien keinen Geruch zu besitzen. Vorsichtig blätterte er eine Seite um, die sich dünn und zerbrechlich anfühlte. Es handelte sich offensichtlich um eine Zeitschrift über Innenarchitektur, auch wenn ihm die Schriftzeichen fremd waren. Die farbigen Fotos zeigten eine Küche mit grünen Wänden und ein Wohnzimmer, in dessen Mitte ein gläserner Kamin stand. Er tippte auf eines der Bilder, bevor ihm bewusst wurde, dass es sich nicht vergrößern würde. Behutsam legte er das Heft zurück und ging zu einem der anderen Tische.
Eine Zeitschrift über die einheimische Kochkunst war in seiner Sprache verfasst. Statt einer Suchfunktion gab es ein Inhaltsverzeichnis, man musste selbst zu dem gewünschten Artikel blättern. Velon nahm auf einer der gepolsterten Liegen vor dem Fenster Platz und vertiefte sich in die Publikation. Begierig überflog er die Seiten, gewöhnte sich nach und nach an das Umblättern und betrachtete die Fotos der Gerichte, bei denen es sich zumeist um Meeresfrüchte handelte. Viele Fische waren ihm nicht bekannt, aber da es keine Möglichkeit gab, von der Zeitschrift aus die fehlenden Informationen aufzurufen, und sein RID-Chip deaktiviert war, begnügte er sich damit, sie mit irdischen Fischen zu vergleichen. Es war ein anderes Lesen, eine Lektüre wie in einer Isolierkammer, keine neue Inhalte kamen herein, keine Textverlinkungen führten heraus. Man musste sich mit dem Text begnügen, der von den Herausgebern ausgewählt worden war und der seinen Platz auf den Seiten fand. Begierig sog er die wenigen Informationen auf.
Die Auswahl der Zeitschriften war ein Spiegelbild der unterschiedlichen Besucher all der Planeten im System, die hier ihre Zeit verbrachten, und er fragte sich, ob man diese Papiermedien extra auf Cela 14 anfertigte. Auf all seinen Reisen hatte er noch nie Magazine auf bedrucktem Papier gesehen. Manche der Zeitschriften, stellte er beim Durchblättern fest, waren schon mehrere Jahre alt. Während draußen die Sonne langsam über die Baumwipfel stieg, vertiefte er sich in einen Artikel von der Erde über die schwimmenden Städte im Atlantik, die nach Jahren des ungebremsten Wachstums mittlerweile an ihre räumlichen Grenzen stießen. Der nächste Bericht behandelte die neoalchimistischen Strömungen in den Zentralstaaten, die immer mehr Zulauf erhielten, und die der Wissenschaftsrat mit Skepsis beobachtete. Auf den folgenden Seiten wurde der neue Supertower in der Hauptstadt beschrieben, der sich fünf Fußminuten von Velons Wohnung entfernt in den Himmel streckte.
Читать дальше