Ratcliff, das blutige Schwert in der Hand, stürzt aus dem Kabinette:
Halt! halt! entweich mir nicht, mein Doppelgänger!
Du bleiches Nachtgespenst, du hast's getan.
An deiner Nebelhand klebt rotes Blut.
MacGregor entdeckt den Eindringling, es kommt zum Kampf, und der alte Laird fällt. Jetzt hat William mehr Morde auf dem Gewissen als Hamlet. Aber wie? Soll er vielleicht eine Szene einfügen, wo William es hinter den Kulissen mit Zuleima treibt? Soll er sie vielleicht vor ihrer beider Ende noch Sex haben lassen? Jetzt wäre die Gelegenheit günstig. Er könnte sie vor ihrem gewaltsamen Ende noch vergewaltigen, bevor er selber ins Gras beißt – als sozusagen seine Henkersmahlzeit. – Aber nicht doch, lieber Harry, das ginge ebenso wenig durch die Zensur wie der Sex zwischen Zuleima und Almansor und wäre dem biederen Publikum des 19. Jahrhunderts nicht zuzumuten! Außerdem ist es ja gerade wieder das Unglück der beiden, dass es zu keinem Sex zwischen ihnen kommt. Oder kommen darf. Schmeichelt er doch gerade so, wie in seiner Lyrik, auch in diesem Drama dem bürgerlichen Vorurteil vom ,Geheimnis' und der ,Macht' der Liebe, wodurch nicht zuletzt aber wieder nur ihr repressiver Charakter unter entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen zum Ausdruck kommt! So verschwindet er einfach ins Kabinett und erschießt sich am Busen Maries:
Ratcliff, erschöpft: Die gift'ge Schlang ist tot.
Nun ist mir's leicht ums Herz. Den Vorgeschmack
Der Ruh genieß ich schon. Marie ist mein.
Mein Tagwerk ist vollbracht. Ich komm, Marie.
Er geht ins Kabinett, man hört inwendig seine Stimme:
Hier bin ich, süßes, weißes Lieb. Maria!
Es fällt ein Schuss im Kabinette .
Die zwei Nebelbilder erscheinen von beiden Seiten, stürzen sich hastig
in die Arme, halten sich fest umschlungen, und verschwinden.
Margarethe geht auf Zehenspitzen ins Kabinett und liftet die Gardine. Man sieht die Leichen Marias und Ratcliffs übereinander gefallen liegen. –
Das war's. Das also ist Harrys zweites Bühnenstück, und die Botschaft liegt auf der Hand. Wieder hat er ein Gleichnis unglücklicher Liebe, der Unmöglichkeit von Liebe schlechthin geliefert. Aus seltsam unerfindlichem, weil vom Dichter alles andere als überzeugend motiviertem Grund kommen schon Edward und Schön-Betty, gleichwohl sie sich eigentlich lieben, nicht zusammen und müssen wie die Geister im Mysterienspiel im Jenseits als nebulöse Gespenster wabern. Das wiederholt sich in parallelem Verhängnis in den Kindern William und Marie, die, obwohl sie sich gleichfalls lieben, ebenso nicht zusammenkommen – und zwar aus genauso unerfindlichem, weil vom Dichter gleichermaßen unmotiviertem Grund. Das aber schadet dem Stück auf irreparable Weise, denn nichts ist der Überzeugungskraft auf der Bühne so abträglich wie die mangelnde Motivation der Akteure.
Diese mangelnde Motiviertheit ist aber auf durchsichtige Weise verräterisch. Denn was wäre ein überzeugenderer Grund für die Zurückweisung von Edwards Liebe durch Schön-Betty, als dass – sie ihn einfach nicht genügend liebt? Und was wäre der Grund für die Zurückweisung von William seitens Marias, als dass – sie ihn gleichfalls nicht genügend liebt? Das ist die einzig mögliche realistische Interpretation. So ist es allem biografischen Dafürhalten nach in Wahrheit dich wieder nur die Zurückweisung Harrys durch seine Kusine Molly und andere, was hier dem Zuschauer in dramatischer Verbrämung vorgeführt wird.
Und doch liebt Schön-Betty Edward, und Maria William wieder so weit, dass sie nicht voneinander lassen können – was eine manifeste Ungereimtheit und Selbstwidersprüchlichkeit ist. Damit will sich der realistische Zuschauer des 19. Jahrhunderts aber nicht abspeisen lassen und bohrt psychologisch nach. Eine solche manifeste Ungereimtheit und logische Gewaltsamkeit kann dann aber nur auf einer unausgegorenen Haltung des Autors selber beruhen.
Vermutlich ist es der unverdaute Liebestraum des Autors Harry mit seiner Kusine Molly, der sich in der Geschichte von William und Marie verrät. Denn da er will, dass sie ihn liebt, muss er sie im Stück nolens volens auch ihn lieben lassen. Weil es aber, wie er wohl weiß, nur eine subjektive Wunscherfüllung des Autors, und als solches nicht Wahrheit, ist, verfällt die Erfüllung zugleich auch wieder der Traum-Zensur und wird im tragischen Ausgang als Illusion entlarvt: wo am Ende die Liebe doch wieder unglücklich, und als solche unmöglich ist und nicht gelebt werden darf. So ist es das selbstwidersprüchliche, und in seiner Selbstwidersprüchlichkeit merkwürdig stimmige Gleichnis seiner eigenen hoffnungslosen Liebe, das sich im Ratcliff ausspricht.
Wir sind daher nicht ganz seiner Meinung: Man entjungfert gleichsam das Gedicht, man zerreißt den geheimnisvollen Schleier desselben, wenn jener Einfluss der Geschichte, den man nachweist, wirklich vorhanden ist; man verunstaltet das Gedicht, wenn man ihn fälschlich hineingegrübelt hat. So An Friedrich Merckel :
Ich habe die süße Liebe gesucht,
Und hab den bitteren Hass gefunden,
Ich habe geseufzt, ich habe geflucht,
Ich habe geblutet aus tausend Wunden.
Auch hab ich mich ehrlich Tag und Nacht
Mit Lumpengesindel herumgetrieben,
Und als ich all diese Studien gemacht,
Da hab ich ruhig den Ratcliff geschrieben.
Die unerfüllte Liebe Edwards und Schön-Bettys kommt nicht zur Ruhe: will sagen, eine Liebe, die nicht gelebt werden darf, ruhet auch drunten im Orkus nicht. Sie geht im Jenseits noch als Gespenst herum. Anders gesagt: Eine unglückliche Liebe verfolgt uns subjektiv gesehen wie ein Gespenst. Maria MacGregor ist wieder seine Kusine Molly, und William Harrys eigenes unselig verliebtes Ich. Weitab jeder objektiven Konflikthaftigkeit, ist das Stück, wie zuvor Almansor , ein hochsubjektives Produkt. Was vordem nur für seine Lyrik galt, gilt jetzt auch für sein dramatisches Werk. So 1823 gegenüber Immermann: Ich will Ihnen gern eingestehn den Hauptfehler meiner Poesien , durch dessen Vorwurf Sie mich wahrscheinlich zu verletzen glauben: – es ist die große Einseitigkeit, die sich in meinen Dichtungen zeigt, indem sie alle nur Variationen desselben kleinen Themas sind … nur die Historie von Amor und Psyche in allerlei Gruppierungen .
Doch ist das Schauermärchen, zu dem er im Ratcliff greift, als Grund der Tragödie einfach nicht tragfähig genug. Der Autor muss wissen: Das geht nicht. Man kann dem Publikum des fortgeschrittenen neunzehnten Jahrhunderts keinen solchen Popanz aufbinden. Das so genannte Schicksalsdrama, das deutlich auf das Werk eingewirkt hat, ist obsolet und längst in die Asservatenkammer gewandert.
Die Griechen – bemerkt er selber zu dem Stück Tassos Tod von Wilhelm Smets – fühlten die Notwendigkeit, dieses qualvolle Warum in der Tragödie zu erdrücken, und sie ersannen das Fatum . Viele Dichter jener Zeit hätten das Fatum nachgebildet; so seien die damaligen Schicksalstragödien entstanden. Ob diese Nachbildung glücklich war, ob sie überhaupt Ähnlichkeit mit dem griechischen Urbild hatte, möchte er dahingestellt lassen. Genug, so löblich das Streben nach Hervorbringung der Gefühlseinheit auch gewesen, so sei jene Schicksalsidee doch eine sehr traurige Aushilfe, ein unerquickliches, schädliches Surrogat. Ganz widersprechend sei jene Schicksalsidee mit dem Geist und der Moral seiner Zeit.
Schöner und wirksamer dagegen hätten jene neueren Dichter gehandelt, die alle Begebenheiten aus ihren natürlichen Ursachen entwickeln, aus der moralischen Freiheit des Menschen selbst, aus seinen Neigungen und Leidenschaften, und die in ihren tragischen Darstellungen, sobald jenes furchtbare letzte Warum auf den Lippen schwebt, mit leiser Hand den dunklen Himmelsvorhang lüften und uns hineinlauschen ließen in das Reich des Überirdischen, wo wir im Anschaun so vieler leuchtender Herrlichkeit und dämmernder Seligkeit mitten unter Qualen aufjauchzen, diese Qualen vergäßen oder in Freuden verwandelt fühlten. Das sei die Ursache, warum oft die traurigsten Dramen dem gefühlvollsten Herzen einen unendlichen Genuss verschafften.
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