1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Und so löst sich wenigstens ein Teil der fast schon mit Händen zu greifenden Anspannung, die mit diesem schwierigen Thema verbunden ist.
Das ist für Peer aber noch lange nicht erledigt: »Apropos Weltuntergang, nochmal zurück bitte zu unserem hypothetisch wahnhaften Patienten.«
»Ach so, ja dann mal los ...«, ruft sich auch Tilmann wieder zur Räson.
»Stell dir vor, es ist dann auch noch jemand, der so gar nichts klischeehaft Verrücktes an sich hat, das einem direkt ins Auge springen würde. Sondern es ist ein Patient, der erst mal bieder, harmlos und sogar ausgesprochen nett rüberkommt ...«
»Ja okay, jetzt machst du mich ehrlich neugierig ...«
»Immerhin …«
»Also sprechen wir vom sprichwörtlichen Wolf im Schafspelz?«, hakt Tilmann nach.
»Genau«, legt Peer eifrig nickend nach, »der Wolf im Schafspelz, der zu allem Überfluss auch noch davon überzeugt ist, mit Gott in Verbindung zu stehen, eine Mission zu haben, und diese Mission sei, die Welt vor dem Untergang zu bewahren!«
Peer schiebt die Hände nun von außen zwischen Sitzfläche und Oberschenkel und schaukelt leicht vor und zurück. Das bedeutet immer „Alarmstufe Gelb“ bezüglich seiner inneren Anspannung.
»Da hätte sich aber jemand allerhand vorgenommen!«, witzelt Tilmann, nun aber selber auch beunruhigt. »Okay, lass uns direkt vom schlimmsten Fall ausgehen. Falls es im Endeffekt dann doch weniger heftig ausfällt, können wir uns ja immer noch freuen, oder was meinst du?«
Peer nickt zögernd, aber zustimmend und hängt wie gebannt an Tilmanns Lippen.
»Nehmen wir also an, du als Behandler stellst fest, dein Patient ist tatsächlich außerordentlich stark vom Wahn befallen. Und dazu ist er noch sehr aggressiv, wenn auch nur verbal. Und er kann seine aggressiven Impulse, was Handlungen anbetrifft, gerade noch so kontrollieren. Soweit klar?«
Tilmann fixiert Peers Blick und dessen Schaukelambitionen lassen tatsächlich etwas nach.
»So weit so gut, aber das klingt dennoch alles nach tickender Zeitbombe und nahender Katastrophe«, beginnt Peer erneut, sich hochzuschrauben.
»Hey, alter Knabe, kein Grund zur Panik! Ganz ehrlich, solange er ansprechbar ist, nicht unter totalem Realitätsverlust leidet und ich in der Therapie Erfolge sehe, bleibe ich relativ entspannt.«
»Ja schön, freut mich, dass wenigstens einer von uns entspannt bleibt!«, erwidert Peer sarkastisch. »Was ist aber, wenn der Patient immer wieder Gewaltfantasien äußert?«
Peer wirkt bei den letzten Worten fast schon verzweifelt.
»In dem Fall wird die Luft tatsächlich etwas dünner. Dann nimm doch erst recht Kontakt mit dem überweisenden Arzt auf! Der kennt doch den Patienten in der Regel schon viel länger und ein Wahn oder eine Psychose fällt ja meistens nicht von heute auf morgen einfach so vom Himmel.«
Tilmann hat argumentativ alles gegeben und fragt sich, wie seine Worte wohl wirken. Er lehnt sich zurück, schaut Peer ruhig an und kann nur vermuten, wie es hinter dessen unruhigen Augen auf Hochtouren arbeitet.
Nach Sekunden des Abwartens schaut dieser endlich auf, befreit seine etwas plattgesessenen Hände und spricht wieder mit festerer Stimme: »Ja, im Grunde hast du Recht, aber wenn ich ehrlich bin«, Peer schaut ernst und seufzt tief, »habe ich manchmal das Gefühl, unter der Last dieser Verantwortung zusammenzubrechen, selbst wenn ich weiß, was richtig ist und zu tun.«
Peer treibt also ein komplexeres und persönlicheres Problem um, welcher konkrete Fall auch immer dahinter stecken mag, denkt Tilmann für sich. Er beschließt aber, ihn heute in dieser Hinsicht nicht weiter zu bedrängen. Peer ist wirklich nicht der Typ, der sich mit noch so viel Geschick etwas aus der Nase ziehen lässt, für das er noch nicht bereit ist.
Stattdessen bleibt Tilmann auf der sachlichen Ebene: »Als Plan B, also falls du irgendwann wirklich Fremdgefährdung vermuten solltest, kannst du natürlich auch die Feuerwehr oder den sozialpsychiatrischen Dienst einschalten. Dann sollen die nämlich eine Zwangseinweisung überprüfen und du wärst diesen Teil der Verantwortung schon mal los.«
Peer bläst erleichtert die Backen auf und atmet geräuschvoll aus: »Ach ja, danke, dass du mir das wieder ins Bewusstsein gehievt hast. Jetzt geht's schon etwas besser.«
»Aber letztendlich hast du natürlich recht. Trotz allem sind und bleiben Patienten mit Wahnstörungen, ob nun religiöser Natur oder nicht, schwierig zu behandeln. Das Aufreibende daran ist, du kannst erst wirklich an der Symptomatik arbeiten, wenn der Patient erkannt hat, dass er unter einem Wahn leidet«, denkt Tilmann laut weiter. »Und das kann dauern oder passiert vielleicht nie, wenn man Pech hat. Und die Angst, was bis dahin alles passieren kann, lässt einen irgendwie nicht los.«
»Ich halte es nicht mehr aus mit dir!«, schreit Marianne, mit hochrotem Kopf und sichtbar stark pulsierender Halsschlagader, ihren Mann an.
»Weil du einfach überhaupt keine Ahnung von dem hast, was sich da draußen abspielt!«, brüllt Karl zurück. Hektisch wischt er sich einige wirre Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht.
Seit mehr als einer Stunde streiten sie jetzt heftig und lautstark nach einem Tag, der auch so schon voller Spannungen war. Immer wieder hatten sie sich wegen Kleinigkeiten angeblafft, konnten aber die endgültige Eskalation noch abwenden. Sie hatten sich geschworen, nie vor ihren Kindern zu streiten, um die nicht unnötig in ihre Eheprobleme hineinzuziehen. Ihre Kinder sollten niemals das erleben, was sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend hatten durchmachen müssen.
Marianne kommt ursprünglich vom Land. Ihre Eltern hatten damals einen kleinen Bauernhof mit Viehzucht und Ackerbau. Der Erwerb aus der Landwirtschaft konnte die vierköpfige Familie gerade so ernähren, von Wohlstand konnte allerdings keine Rede sein. Zu allem Überfluss trug ihr Vater den schwer verdienten, kargen Gewinn in die Dorfkneipe. Zusätzlich zu dessen Alkoholismus, der regelmäßig Auslöser für Streit war, unterstellte Mariannes Mutter ihrem Mann, er hätte ein Verhältnis mit der Kneipenwirtin. Besonders laut wurde es aber, wenn die Mutter versuchte, mit dem Vater über die Zukunft des Betriebes zu diskutieren. Sie befand sich nämlich im Zustand andauernder Verzweiflung, da sie die Herrin der Zahlen , also der Buchführung, war und sah, dass es so nicht weitergehen konnte.
»Mach doch endlich die Augen auf, sonst gehen wir direkt in die Pleite!« und »Rede endlich mit mir!« sowie »Dann denk doch wenigstens an die Kinder!« waren ihre häufigsten und eindringlichsten Sätze.
Mariannes Vater hingegen, Typ verschrobener Bauer , wie sie rückblickend abfällig bemerkte, ließ in seiner Starrköpfigkeit nicht mit sich reden. Er ging seinen gewohnten Gang in nervtötender, stoischer Ruhe weiter. Seine entsprechenden, gebetsmühlenartigen Antworten lauteten »Ich weiß gar nicht, was du hast?« und »Diskutier nicht mit mir!« sowie »Du bist doch einfach nur hysterisch!« So ließ er Mariannes Mutter in schöner Regelmäßigkeit auflaufen. Aber an einem ganz speziellen seiner sogenannten blauen Tage ging ihr Vater weiter als sonst, viel weiter. In seinem Suff tönte er, breitbeinig auf den speckigen Polstern der Eckbank sitzend, höhnisch zurück: »Ich hab's doch wie immer voll im Griff, aber du kapierst es nicht, weil du ja sogar zum Scheißen zu doof bist! Kannst dich direkt zu unseren durchgeknallten Kühen in die Reihe stellen, passt schon mit deinen fetten Euterhängetitten!«
Das saß. Mariannes Mutter lief rot an, stand, bebend vor Zorn, da, konnte aber zur diebischen Freude des Vaters zunächst nichts erwidern. Heute konnte er endlich gewinnen, hoffte er und holte zum vermeintlich entscheidenden Schlag aus. Mit glasigem Blick und mehr lallspuckend als geordnet sprechend rief er mit heiserer Stimme: »Und deine feine Tochter kannst du direkt mitnehmen, die ist nämlich auch nichts besser als du!«
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