Peer hofft, dass Herr Häusler darauf anspringt.
Dieser nickt bedächtig wie in Zeitlupe, lässt Peer aber nicht aus den Augen, legt den Kopf schräg und schweigt weiter.
»Es lässt mich nicht los, dass Sie von anstrengend sprachen … Was meinen Sie damit?«, setzt Peer nach, da nur noch zehn Minuten in dieser Sitzung bleiben, bis er endlich in seine Mittagspause starten darf.
Ein bisschen überziehen wäre ja nicht schlimm, aber er weiß, bei ein bisschen würde es mit diesem Patienten nicht bleiben.
»Nun ja«, ringt sich Herr Häusler schwer atmend endlich zu einer Antwort durch, »von Durchschnitt kann wahrhaftig nicht die Rede sein, wenn Sie das Gefühl haben, der Herr wende sich direkt an Sie. Verstehen Sie?«
Peer muss einsehen, dass sein Patient nicht in der Verfassung für eine „normale“ Frage-Antwort-Interaktion ist und innerlich arbeitet es in ihm an einem vorläufigen diagnostischen Schluss. Der stellt aber maximal einen ersten klinischen Eindruck dar, eine äußerst wackelige Hypothese, die fast mehr Fragen aufwirft, als dass sie Antworten enthält, denkt er angestrengt. Um vielleicht ein bisschen Licht ins Dunkel zu bringen – er befürchtet allerdings, dass es die Wirkung eines Teelichts in einer Tropfsteinhöhle nicht übertreffen wird – muss er gleich noch so unauffällig wie möglich die eine Frage stellen, vor deren Antwort er sich am meisten fürchtet.
»Herr Häusler, ich möchte mir ehrlich gesagt noch nicht anmaßen, jetzt schon wirklich verstehen zu können, wie all die Aspekte zusammenhängen und wo dann letztlich das Problem in seiner Komplexität liegt und was das dann wiederum für unsere Behandlung und deren Ziele bedeutet. Aber ich nehme auf jeden Fall das Außergewöhnliche, das Besondere an dem wahr, was Sie berichten! Ich möchte ehrlich gesagt auch noch gar keine Bewertung abgeben, denn die wäre zum jetzigen Zeitpunkt zwangsläufig verkürzt und würde Ihnen keinesfalls gerecht werden!«
Peer muss aufpassen, nicht in den salbungsvollen Singsang einer Bibel-TV-Sendung zu verfallen, hat allerdings im selben Moment den Eindruck, dass genau das Herrn Häusler gefällt. Dieser strahlt über sein ganzes Gesicht und wendet einen verklärten Blick aus leuchtenden Augen erneut gen Raumdecke. Wieder meint Peer ein Wispern zu vernehmen und in der Tat ist da eine leichte Bewegung der Lippen.
Peer versteht aber trotz angestrengten Hinhörens nur Wortfetzen.
» … und du mich hier hingeführt hast … ich dir nur danken … schulde ich dir … extralanges Gebet …«
Dabei schaukelt Herr Häusler wieder fast unmerklich, aber rhythmisch vor und zurück. Die Bewegung wirkt nicht spontan motiviert, sondern eher wie eine einstudierte Choreographie.
Komm Peer, du kommst eh nicht drum herum und eigentlich kennst du ja schon fast die Antwort bei all dem, was sich hier abspielt, auch wenn du dir nicht hättest träumen lassen, dass sich dein berufliches Profil mal in Richtung „Eventmanager für Erweckungsveranstaltungen“ entwickeln würde, denkt Peer selbstironisch.
Sein Patient wirkt derweil so entspannt, wie während der ganzen 50 Minuten zuvor nicht. Er ist mit seiner Aufmerksamkeit wieder ganz bei Peer.
»Herr Hammer, so stellen Sie doch bitte diese Frage! Ich weiß doch auch, dass die Sitzung rum ist und Sie Ihre Pause brauchen und sich fragen, was es mit mir auf sich hat.«
Peer ist wie vom Donner gerührt. Kann Herr Häusler Gedanken lesen? Wieder so eine Wendung, die ihm nicht gefällt, weil sie ihn verwirrt. Und Peer mag keine Verwirrung, jedenfalls nicht im beruflichen Bereich.
»Nun gut, Herr Häusler, Sie sehen mich gelinde gesagt sehr überrascht … angesichts Ihrer offensichtlichen Fähigkeiten«, versucht Peer die Gradwanderung, »aber nicht hoffnungslos, was unsere gemeinsame Arbeit anbetrifft … und … wie es manchmal eben so ist …«
»Ihre Frage bitte, Herr Hammer! … Eben die, ob ich verrückt bin oder wahnsinnig gar oder ob es wirkliche Fähigkeiten sind mit einer echten, nicht eingebildeten Verbindung zu Gott, woraus sich wiederum ableitet, ob ich gefährlich bin und am Ende etwas Gefährliches tun könnte … Ach, was sag ich … etwas Verheerendes! Finden Sie nicht auch, dass bei dem Zustand, in dem sich unsere Welt befindet und den der Herr so nicht gewollt hat, ein Ende mit Schrecken besser wäre als ein Schrecken ohne Ende?«
Heilige Scheiße, schießt es Peer durch den Kopf. Etwas Gefährliches, Verheerendes, das Ende der Welt? Alles Bestimmung? Und er soll am Ende mit drin hängen, mit Stempel und Unterschrift? Peer Hammer, einst nicht der schlechteste Psychotherapeut in den Weiten der norddeutschen Tiefebene wird zum trojanischen Pferd der Apokalypse? Von Gott beschlossen und genehmigt und von Herrn Häusler ausgeführt, dieser Ausgeburt an Mittelmäßigkeit?
»Herr Häusler, ich frage Sie absolut in Ihrem Sinne, denn Sie verwenden die Frageform und Sie sagen `könnte´, aber ganz ehrlich, sind das noch Ihre Gedanken und Vorstellungen? Oder ist das für Sie schon die reine, unmittelbare Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«
Peer ist dabei, seine Unsicherheit von eben zu überwinden, findet zu so etwas ähnlichem wie Souveränität zurück. Entweder, feuert er sich an, geht er hier und jetzt geistig, emotional und moralisch unter und kann zudem gleich seine Approbation 1an den Nagel hängen, oder er kriegt nochmal die Kurve zu kraftvoller Professionalität.
»Herr Hammer, ich weiß es doch selbst auch nicht ganz so genau«, rudert Herr Häusler jetzt strategisch zurück, da ihm Peers erhöhte Grundspannung nicht entgangen ist. »Aber dafür sind Sie ja da, mir zu helfen, diese Verwirrung aufzulösen … und ich glaube, ich muss jetzt auch los … Sahra und David abholen … Kinder soll man ja nicht zu lange warten lassen, aber wem sag ich das …«
Das hast du dir so gedacht, mein Freund! Erst den armen Peer mit solch bizarren Gedanken zu piesacken, an den Rand des Wahnsinns und des Herzinfarktes zugleich zu bugsieren und dann noch zu meinen, unter erpresserischem Einsatz der Kinder das Weite suchen zu können? So haben wir aber nicht gewettet!
In Augenblicken des Ärgers fühlt Peer sich manchmal in seine Kindheit zurückversetzt und sieht vor seinem inneren Auge einen kleinen, äußerst pummeligen, sensiblen Jungen, der schnell zu weinen begann. Heute, im reifen Erwachsenenalter, sieht er bis auf ein paar Fettpölsterchen ganz passabel aus. Jedenfalls ist Sven immer wieder von seiner einigermaßen sportlich-rustikalen Figur angetan. Auch psychisch ist er immerhin etwas robuster als in Kindertagen.
»Herr Häusler, das finde ich wunderbar, dass Sie Ihre Kinder nicht warten lassen wollen. Das zeigt mir ganz eindeutig, dass es noch einige Ressourcen und eine Menge an funktionierender Normalität in Ihrem Leben gibt. Bevor wir aber so holterdipolter auseinanderlaufen, möchte ich zwei Dinge klarstellen.«
Peer legt eine Kunstpause ein, die eines Altkanzlers Helmut Schmidt würdig gewesen wäre, nur dass er keine Zigarette raucht oder Schnupftabak zu sich nimmt.
Sein Patient schaut mit großen Augen und angehaltenem Atem zu ihm herüber.
»Erstens …«
»Ja?«, erwidert Peers Gegenüber mit zögerlicher Stimme.
»Erstens sehe ich Sie kommende Woche zur gleichen Zeit an diesem Ort wieder, in Ordnung?«, klingt Peer freundlich aber bestimmt.
»Ja … natürlich … Das lässt sich einrichten … und zweitens?«
»Und zweitens, etwas ganz Grundsätzliches zu unserer Behandlung und deren Grenzen. Ich möchte sehr gerne mit Ihnen arbeiten, auch wenn das mit Ihnen eine echte Herausforderung werden wird und selbst wenn das an die Grenzen unser beider Belastbarkeit gehen sollte …«
»Oh …«
»Und wissen Sie, warum ich das auf mich nehmen würde?«, setzt Peer jetzt alles auf eine Karte.
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