»Ich frag mich, wer sich da heute so beweisen muss …«, keucht Tilmann.
»Weißt du doch … irgendein bescheuerter Superalpha ist immer dabei …«
Michael versucht, spaßig zu klingen, aber sein Gesicht wirkt verkrampft. Und offenbar hat er Sitzprobleme: Immer wieder verändert er seine Position.
Bei Tilmann kommen Zweifel auf. Sind sie zu schnell gefahren? Haben sie sich überschätzt? Vielleicht sind sie doch nur noch zwei lahme alte Herren, die das eigene Alter nicht akzeptieren wollen? Er fühlt sich deutlich weniger euphorisch als noch am Anfang. Er hasst diesen berüchtigten toten Punkt eines Rennens von ganzem Herzen. Jedes Mal gibt er sich wieder der Illusion hin, er könne da drum herum kommen. Aber das wird wohl niemals geschehen, konstatiert er innerlich resigniert.
Genau in diesem Moment liest Michael förmlich die Zweifel aus Tilmanns Mimik, grinst ihn an und zeigt nach vorne. »Gleich kommt die Stadt und dann haben wir es geschafft, alter Junge! Und dann haben wir auch keinen beschissenen Seitenwind mehr.«
»Alter Junge? Pass bloß auf!«, blafft Tilmann zurück. »Sag lieber, was machen deine Beine? Ist bestimmt ungewohnt, so ohne Stützstrümpfe …« Er will nicht alleine im Jammertal der ausgelaugten Radfahrer sein.
»Bis zum Ziel wird es bei mir jedenfalls wohl noch reichen«, erwidert Michael mit einem leicht spöttischen Lächeln.
»Tu nicht so, als wäre das Ganze für dich eine Spazierfahrt! Das bringt mich auf die Palme!«
»Tut mir furchtbar leid, Tilmann, nach all den Jahren weiß ich aber, dass dir der Ärger auf mich mehr Energie gibt als dein gepflegtes Selbstmitleid«
Michael hebt sich direkt aus dem Sattel und zieht das Tempo ein letztes Mal an.
Fluchend zieht Tilmann nach.
»Na warte, wer danach schreit, bekommt es auch!«
Im Zielbereich stehen sie mit auf die Lenker gestützten Unterarmen und versuchen, ihre Lungen mit Luft vollzupumpen. Aber es fühlt sich so an, als wenn es nicht genug davon in der katholischen Nachbarstadt gibt. Sie haben definitiv das Maximum aus ihren Körpern herausgeholt und stehen mit zittrigen Beinen vor dem Schloss der Universität. In ihren Köpfen rauscht es momentan. Das Gefühl des Triumphes wird sich erst zeitversetzt einstellen, wenn sie ihre Gedanken wieder sortiert haben werden. Das Hochgefühl wird kommen, wenn sie festgestellt haben werden, dass sie deutlich schneller gefahren sind, als sie sich hätten erträumen lassen.
An der körperlichen Grenze gewesen zu sein und dabei die eigene Leistungsfähigkeit richtig eingeschätzt zu haben, wird für tiefe Zufriedenheit sorgen. Und die wird Tilmann als Puffer im Alltag brauchen. Denn schon bald soll er am eigenen Leib erfahren, dass er nicht weniger als Nerven aus Stahlseilen benötigen wird.
Peer schlürft wie in Zeitlupe seinen Kaffee. Die vielschichtig angetrockneten Reste innen und außen um den Rand der Tasse herum verraten, dass er diese mal wieder den zweiten oder gar dritten Tag in Benutzung hat.
Mehr hängt er als dass er in seinem Behandlungssessel sitzt. Der weiße Reisewecker auf dem Beistelltischchen zeigt zehn nach zehn. Einerseits ist er froh, dass er aufgrund einer krankheitsbedingten Patientenabsage eine etwas üppigere Pause bis zur nächsten Sitzung um elf hat. So ein unerwarteter Zeitgewinn hat doch was, zumal er gestern zusammen mit seinem Liebsten Sven und dessen Freunden des Gesangs etwas zu lange dem Baileys gefrönt hat. So verspürt er das Bedürfnis, sich für einige Minuten nur der Müdigkeit und dem Kaffee hinzugeben. Andererseits könnte er aber auch endlich die drei aufgeschobenen Berichte für die Rentenversicherung bearbeiten. Die haben ihn auch heute Morgen wieder vorwurfsvoll aus der Büroablage angestarrt. Aber Peer hasst alle Arten von Papierkram inständig. Er bekommt davon diese spezifische Art von Rückenschmerz, die sich komischerweise nur bei derartigen Erledigungen einstellt. Und will ihn dieser Schmerz nicht eigentlich vor Überanstrengung, vor einem drohenden Tages-Burn-Out schützen? Peer solle, sagt Sven dann gerne, einfach zu seiner „Memmenhaftigkeit, gepaart mit Faulheit und beginnender Demenz" stehen und sich bitte nicht mit Überanstrengung herausreden.
Neben der Wirkung des Kaffees setzt jetzt auch der wachmachende Effekt dieser erinnerten Lästerei seines Partners ein. Peers Körper strafft sich daraufhin, als ob er für einen nahenden Disput mit Sven mobil machen will. Der hat gut reden, ereifert sich Peer. Zum einen ist Sven mit fünfunddreißig immerhin zehn Jahre jünger als er. Zum anderen kann er als freischaffender Architekt im ausgebauten Dachgeschoss der gemeinsam bewohnten Villa seine Arbeitszeiten frei gestalten. Manchmal geht er sogar in einem seiner Seidenpyjamas und ungekämmt rauf ins Büro. Also soll der mal schön den Ball flach halten! Jetzt, wo Peer allerdings an Sven im Pyjama denkt, und wie selbiger dessen geschmeidigen Körper einhüllt, umspielt ein zärtliches Lächeln seinen Mund. Seine vormals müden Augen beginnen wieder zu strahlen.
Er entschließt sich zu einem Kompromiss: Weder bearbeitet er die lästigen Berichtsanfragen, noch bleibt er behäbig und vollkommen untätig im Sessel sitzen. Nein, er erhebt sich mit einem Seufzer und wendet sich einer Notiz auf dem Schreibtisch zu. In der kündigt seine Mitarbeiterin Susanne in Stichworten den neuen Patienten an, der um elf zum Erstgespräch kommen soll.
In der Psychotherapie, egal ob verhaltenstherapeutischer oder tiefenpsychologischer oder sonstiger Prägung, ist ein gelungenes Erstgespräch von hoher Bedeutung. Also, dann schauen wir mal, wen mir der Zufallsgenerator aus Branchenverzeichnis, Internet oder Hausarztempfehlung heute zuführt. Herr Karl Häusler ist sechsundfünfzig, derzeit arbeitssuchender Elektriker, verheiratet mit einer sechs Jahre jüngeren Frau sowie mit zwei zehn und acht Jahre alten Kindern gesegnet, also sind die Häuslers relativ spät Eltern geworden.
Herr Häusler wird also in zwanzig Minuten vor der Tür stehen. Im entsprechenden Feld der Telefonnotiz steht nichts von therapeutischer Vorerfahrung, weder ambulant, noch stationär. Also könnte es sein, dass sein neuer Patient nervös sein wird.
Umso wichtiger, denkt Peer, dass er konzentriert und auf Betriebstemperatur ist. Die erste Sitzung soll mindestens einen guten Eindruck hinterlassen. Jedem Anfang wohnt doch ein Zauber inne: Heißt es nicht so?
Als Grund des Therapiewunsches steht dort lediglich, es gebe seit längerem eheliche Konflikte aufgrund „derzeit unüberwindlicher Glaubensfragen“. Herr Häusler sei „zunehmend verzweifelt, seelisch zermürbt“, zeige „erste depressive Symptome“.
Peer dreht sich rhythmisch auf dem Bürostuhl hin und her und zum ernsten Gesichtsausdruck gesellt sich nun auch noch eine skeptisch hochgezogene rechte Augenbraue hinzu. Hoffentlich ist Häuslers Frau die glaubensfestere von beiden und nicht der Patient selber. Weil damit wäre Herr Häusler wahrscheinlich auch stockkonservativ.
Peer definiert sich, wie viele Homosexuelle beiderlei Geschlechts, eher als politisch liberal denkender, freigeistiger Mensch. Er kann zwar auch mit sehr konservativen Menschen, die als Patienten zu ihm kommen, arbeiten und umgehen. Dabei muss er sich jedoch noch bewusster auf seine Therapeutenrolle konzentrieren. Er unterlässt dann in der Regel Anspielungen auf seine weltanschaulichen Ansichten, und seien sie noch so impliziter Natur. Das geht immer etwas auf Kosten der lockeren Atmosphäre, die Peer gerne in seinen Therapien pflegt. Für die muss aber eben die Wellenlänge in besonderer Weise stimmen. Ausnahmen macht er allerdings bei Patienten, die rechtsextreme, rassistische und Minderheiten feindliche Ansichten verkünden. In diesen Fällen gab es in der Vergangenheit schon spektakuläre Therapieabbrüche von beiden Seiten aus. Aber mindestens kam es dann zu heftigen Disputen. In Ausnahmefällen ging es nach denen, wenn der Zorn verraucht war, sogar weiter mit der Behandlung. Sein Motto lautet in dieser Hinsicht: Bei aller Liebe zur Professionalität darf die Authentizität des Therapeuten nicht vollends unter die Räder kommen und im Radkasten der Beliebigkeit mitgeschliffen werden.
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