»Nein … aber Sie werden es mir sicher gleich sagen?«
»Das werde ich und das muss ich vor allem auch, selbst wenn es zunächst sehr unangenehm klingen sollte …«
»Bringen wir es doch hinter uns …«
»Weil ich nicht möchte, dass ein guter Mensch, Ehemann, Vater von zwei Kindern und potenziell tüchtiger, wenn auch derzeit arbeitssuchender Mitbürger, so ohne Not in der geschlossenen Abteilung der örtlichen Psychiatrie landet …«
Herr Häusler wird ganz blass.
»Psychiatrie? Sie meinen …«
»Genau das meine ich«, betont Peer. »Denn bei allem Respekt vor Ihrem Glauben, Ihrer Religiosität, glaube ich, dass Sie sich irgendwo in der gefährlichen Grauzone zwischen bewundernswerter Hingabe an Gott und einer mindestens fixen Idee befinden. Und falls wir letzteres nicht in den Griff oder zumindest gebremst bekommen, wird sich das langfristig nicht günstig auf Ihr Leben auswirken. Dafür habe ich schon zu viele Menschen diesen Weg gehen sehen, denen vielleicht anders hätte geholfen werden können, wenn sie sich hätten helfen lassen! Denn wenn Sie hier nicht freiwillig die Kurve bekommen, kann ich Ihnen am Ende auch nicht mehr helfen und dann übernehmen das Andere …«
»Andere?«
»Ja, Andere … Die Ärzte zum Beispiel, und die reden dann nicht mehr oder fragen, was Sie möchten, die handeln dann einfach!«
Herr Häusler bekreuzigt sich hektisch dreimal. »Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, dein Stecken und Stab …«
Peer legt unbeirrt alles in seinen letzten Satz, denn er will an das Ende der Behandlung unbedingt etwas Positives, Konstruktives stellen, sonst kommt dieser Patient nie wieder. »Und damit wir uns richtig verstehen, Gott darf dabei sogar gerne eine zentrale Rolle spielen, aber ich werde mich nicht darauf einlassen, wenn Sie sich bei Bedarf oder wenn es unangenehm wird, hinter Gott verstecken oder ihn gar gegen mich instrumentalisieren. Da hört der Spaß dann definitiv auf!«
»Das klingt aber insgesamt sehr hart!«, beschwert sich Herr Häusler abschließend. »Und ob das dem Herrn gefällt, weiß ich auch noch nicht!«
»Ja, ich weiß, das klingt hart, aber eben deshalb, weil es hart ist und weil die Alternative noch härter wäre. Und ich sage das so unverblümt, weil mir trotz der Kürze der Zeit schon etwas an Ihnen liegt und weil ich möchte, dass unsere Zusammenarbeit hier funktioniert und zwar auf einer ehrlichen Grundlage! Das müsste dem Herrn doch eigentlich gefallen?«
Sein Patient ist für Momente bewegungsunfähig und Peer weiß nicht, was als nächstes passieren wird. Vom spontanen Schlaganfall aufgrund eines geplatzten Aneurysmas 2durch Blutdruckkrise bis hin zu wütendem Rauslaufen hält er alles für möglich. Ehrlich gesagt würde es ihn nicht mal mehr wundern, wenn sich die Decke des Raumes öffnen würde, im gleißenden Licht die Hand Gottes erschiene, Herrn Häusler greifen und eine Stimme ertönen würde: »Karl, ich bin gekommen, dich zu erretten vor diesem stümperhaften und ketzerischen Therapeuten.«
Aber etwas ganz anderes passiert und Peer hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Herr Häusler schaut ihn nun unverwandt mit einem Ausdruck verletzlicher Offenheit und tränenverschleiertem Blick an und sagt mit brüchiger Stimme: »Das jemandem etwas an mir liegt, das hat noch niemand im ganzen Leben zu mir gesagt …«
Jetzt weicht er Peers Blick verschämt aus und bricht in lautes Schluchzen aus.
Ehe Peer, selber ganz überwältigt, reagieren kann, ist Herr Häusler schon aufgesprungen, greift seine Jacke von der Ecke der Sessellehne, stürzt zur Zimmertür, reißt sie auf, durchquert mit wenigen Schritten den Flur zur Eingangstür und passiert auch diese, ohne sie wieder zu schließen.
Peer, der noch nicht mal bis in den Flur gefolgt ist, hört noch den Widerhall eines letzten Schluchzers aus dem Treppenhaus, bevor auch die Haustür ins Schloss fällt. Benommen steht er einen Moment auf der Schwelle des Praxiseingangs, wendet sich wieder nach drinnen, schließt die Tür und lehnt sich dagegen. Er spürt das kühlende Glas angenehm durch die Kleidung und murmelt: »Genau, Kühlung ist das, was ich jetzt brauche!«
»Lieber Peer, was hältst du von diesem wunderbaren Rotwein?«
Tilmann schaut seinen Freund und Kollegen erwartungsvoll an und zeigt ihm das Etikett der geöffneten Flasche. Er hat sie vor einer Stunde entkorkt, damit der Wein atmen und sein kräftiges Aroma in ganzer Fülle entfalten kann.
»Ach Tilmann, als wenn es dir ernsthaft darum ginge, was ich davon halte! Hauptsache, du hältst ihn nicht mehr zu lange, sonst verwandelt sich mein Lieblings-Corbière noch in eine lauwarme Sangria«, frotzelt Peer.
»Oh, man höre und staune!«
»Wieso?«
»Na ja, dass selbst jemand mit Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und Extrarunde einen Corbière von Sangria unterscheiden kann? Ich komme aus dem Staunen ja gar nicht mehr raus!« Tilman befindet sich in lustvoller Erwartung der nächsten Retourkutsche.
»Ich, mein lieber Tilmann, habe mit meiner Unterscheidungsfähigkeit in der Tat keine Schwierigkeiten. Ich erinnere mich aber gerade an jemanden, der im Vollrausch Rotwein und Weißwein nicht mehr auseinanderhalten konnte«, gibt Peer mit hochgezogenen Augenbrauen und spitzem Mund zurück.
»Och, nö, nicht schon wieder diese olle Kamelle!«, stöhnt Tilmann auf. »Die hat doch wirklich einen Bart von hier bis China und ...«
»...ist aber trotzdem wahaaar!«, fällt ihm Peer triumphierend ins Wort. »Und wenn’s wahr ist, darf man es sagen, sagst du doch selber immer!«
Wenn es partout ums Rechthaben geht, weiß Tilmann, wird Peer zum Marder im Hühnerstall, der im Blutrausch trotz Sättigung nach dem Verzehr eines Federviehs noch längst nicht Halt macht. Er steht auf, um beiden ein Glas Wasser zum Wein zu stellen, aber auch, um die Gemüter zu kühlen.
»Manchmal frage ich mich, warum du eigentlich immer selektiv in alten Wunden herumstochern musst?« Tilmann zieht die rechte Augenbraue hoch und lässt seine Worte wirken. »Schließlich waren wir damals jung, hatten volles Haar, sogar du, und weder war ein Bursche vor dir sicher, noch konnte ich mich der Mädels erwehren, die mir scharenweise hinterherliefen ... Also das Positive überwog doch die Fauxpas bei weitem!«
Tilmann ist guter Dinge, Peer allmählich runterdimmen zu können.
»Du musst jetzt gar nicht vom Thema ablenken, Tilmann, denn du weißt selbst, dass alte Wunden nur durch die manchmal grausame Wahrheit geheilt werden können, vor allem die eitrigen«, doziert Peer jedoch weiter. »Also, olle Kamellen hin oder her, meine ich in der Tat unsere Feier nach dem Vordiplom, als deine Beine dir am Ende den Dienst versagten und du niveaulosester Mensch unter Gottes weitem Himmel schon aus der Flasche trinken musstest. Quelle blamage!«
Peers Wangen beginnen zu glühen. Sichtlich genießt er es, seiner sonstigen privaten Behäbigkeit zum Trotz, jetzt so richtig auf Touren zu kommen. Er fühlt sich wie ein etwas in die Jahre gekommener Dreißig-Tonner-Diesel, der mit abnehmender Bereitschaft zum Bremsen eine lange Gefällestrecke hinunter rast. Die Lust hingegen, dabei irgendwas oder irgendwen kommunikativ platt zu walzen, nimmt bedenklich zu.
Da kommt ihm Tilmann mit seinen Provokationen jetzt gerade recht.
Oh mein Gott, denkt dieser genervt. Peer dreht vollkommen durch, nur weil er ausnahmsweise mal Oberwasser hat! Seit vielen Jahren sind sie miteinander befreundet, kennen sich gegenseitig, inklusive ihrer Abgründe, seit ihrem gemeinsamen Psychologiestudium.
Tilmann versucht nun, unauffällig das Tempo rauszunehmen, in dem Peer ihm gerade auf die Pelle rückt: »Hey, gönne mir und meinen grauen Zellen bitte eine kleine Pause, damit ich in deinen lange verjährten Erzählungen aus grauer Vorzeit wenigstens nach einem Fünkchen Wahrheit suchen kann, in Ordnung?«
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