Er unterstreicht sein Ansinnen, indem er sein halb volles Glas erhebt, und so kann Peer nicht anders, als auch einen Moment innezuhalten und anzustoßen.
Diese Strategie eines Entlastungsangriffs scheint aufzugehen, denn Peer schwenkt den Wein und genießt mit entrücktem Blick das kräftige Bukett. Die dem ersten Schluck unmittelbar folgende Geschmacksexplosion befriedet für den Moment jede Angriffslust: ein samtiger, runder Geschmack, der an pralle Traubenfrüchte aus Italien erinnert.
Als Tilmann sich endgültig nur noch diesem himmlischen Genuss hingeben möchte und sich fast schon in Sicherheit wähnt, hebt Peer unvermittelt wieder an. Und wie an so vielen solcher Abende zuvor, bleibt das Thema Arbeit auch heute nicht aus. Wie oft hatten sie sich vorgenommen, nach Feierabend nicht über Patiententhemen zu räsonieren? Aber inzwischen hatten sie es aufgegeben, sich an ihren Vorsatz zu halten. Einer von beiden fing früher oder später immer davon an und heute fällt das Los auf Peer.
»Tilmann, wo wir hier gerade so schön sitzen, sag mal … ähm … ja also … also hast du … oder besser gesagt, weißt du … beziehungsweise was denkst du … also über … um nicht zu sagen …«
»Peer, spuck‘s einfach aus und eier nicht so rum, du machst einen ja ganz kirre!«
»Okay, tut mir leid … schwieriges Thema … oder vielleicht doch nicht …?“
»Peer!!!«
»Nun gut, hast du oder hattest du schon Erfahrungen in der Behandlung von Patienten mit religiösem Wahn?«, platzt es nun aus Peer heraus.
»Oh je, und ich dachte schon, du fragst mich, ob ich dich therapeutisch bei einer Geschlechtsumwandlung begleiten würde … und jetzt ist es doch nur religiöser Wahn, wie erstaunlich!«
»Nein, nein, das ist zwar lieb gemeint … aber nur das Wahnthema treibt mich aktuell sehr um«, ist Peer plötzlich gar nicht mehr so zu Späßen aufgelegt.
Tilmann wundert sich über den plötzlichen Ernst.
»Ja gut ... also ... und wem sag ich das, denn du weißt es eigentlich selbst«, beginnt Tilmann in mehr sachlichem Tonfall. »Wahnstörungen beziehungsweise wahnhafte Störungen, wie es ja eigentlich heißen müsste, sind generell schon recht speziell …«
»Wie jetzt, speziell …?«
»Nun warte doch ab! Ich habe mit Wahnstörungen ganz vereinzelt Erfahrungen gesammelt, aber ehrlich gesagt als ziemliche Randerscheinung. Und der religiöse Wahn wiederum ist ja etwas noch Selteneres ...«
»Ja ja ...«, erwidert Peer in abwesendem Tonfall.
Na toll, denkt Tilmann, kaum wird es ernst und geht es nicht länger darum, über mich zu lästern, hört Peer nicht mehr im Geringsten zu!
»Sag schon, warum fragst du eigentlich?«
Peer schaut betreten auf seine Finger, knibbelt an den Nägeln.
»Also gut … Ich habe vor einigen Tagen einen Artikel im Ärzteblatt über religiösen Extremismus und religiösen Wahn gelesen,« spricht Peer, aber immer noch zögerlich.
»Okay, sicher interessant, vor allem, wenn man bedenkt, was alles los ist in der Welt. Aber was ist denn jetzt dein Problem bei der Sache?«
»Ich habe mich am Ende, das mag dir jetzt überängstlich vorkommen, einfach nur gefragt, ob wir als Therapeuten in die Verantwortung genommen werden können …«
»Verantwortung wofür?«
»Na ja, falls ein Patient im Wahn eine Gewalttat verübt und sich dabei auf seinen direkten Auftrag durch Gott beruft und dann auch noch bei seiner Festnahme angibt, in psychotherapeutischer Behandlung zu sein?!«
» So überängstlich finde ich es jetzt gar nicht mal, aber vielleicht kann ich dich beruhigen. Solange dir doch nicht nachgewiesen werden kann, dass du von einer Fremdgefährdung hättest wissen müssen , kann man dich auch nicht belangen.«
»Ach so … hmmm …«, scheint Peer in sich zu gehen. »Als hätte ich das nicht irgendwann schon mal selber gewusst … vor Äonen von Jahren … also vielleicht werde ich einfach etwas tüddelig«, gibt Peer selbstironisch zurück.
»Tüddelig halte ich für übertrieben, aber etwas wunderlich trifft es schon eher.«
»Na hör mal!«
»Okay, Spaß beiseite. Wenn du dir bei einem konkreten Patienten wirklich unsicher bist, ob er im Rahmen eines ausgeprägten Wahns mit vollständigem Realitätsverlust Gewalt ausüben könnte, schließ dich doch erst mal mit dem überweisenden Arzt kurz!«
»Falls es einen überweisenden Arzt gibt!«, wendet Peer mit zweifelnder Mine ein.
»Selbst wenn nicht, haben wir doch immer noch die obligatorische Untersuchung im Rahmen des Konsiliarberichtes … Und spätestens dann gibt es doch garantiert den von dir so ersehnten Arztkontakt vor Therapiebeginn.«
»Ja aber …«, will Peer aufgeregt fortfahren.
»Nichts aber , jetzt komm mal wieder runter!«, setzt Tilmann nach.
Aber Peers Gedankenkarussell dreht sich unbeirrt weiter. »Wenn der Patient den ausstellenden Arzt kennt, es ist ja meistens der langjährige Hausarzt, dann bearbeitet der den Bericht doch auch, ohne den Patienten nochmal gesehen zu haben. Du weißt doch genau, was in den Praxen los ist, vor allem am Ende eines Quartals!«
»Aber du lieferst doch gerade selber die Lösung deines selbstkonstruierten Scheinproblems!«
» Scheinproblem ? Ich habe ein selbstkonstruiertes Scheinproblem ?! Du willst dich doch einfach nur nicht mit der Realität auseinandersetzen … und ...« Peer schnauft ungehalten. »Mann, was haben sie dir denn heute in den Kaffee getan? Ich meine doch nur, dass, wenn der Arzt den Patienten nicht nochmal spricht oder untersucht, weil er ihn schon lange kennt, dann weiß er doch erst recht, ob der unter einem Wahn leidet!«
»Und ich meine, du blendest all die schrecklichen Dinge aus, die da draußen passieren … in die wir, ruckzuck, auch mit reingezogen werden können … jederzeit, mein Lieber … jederzeit!« Peer erhebt dabei mahnend die rechte Hand mit in Richtung Tilmann ausgestrecktem Zeigefinger. »Weil, was ist denn, wenn der ach so langjährig bekannte Patient den Wahn erst in den letzten Monaten oder sogar Wochen entwickelt hat ... und der Arzt hat davon nichts mitbekommen?!« Peers Stimme hat nun schon einen schrillen Unterton.
Ich frag mich gerade, wer hier einen Wahn hat, denkt Tilmann, hütet sich aber, diesen Gedanken zu äußern. Er bemüht sich, ruhig zu antworten, kann aber nur schwer an sich halten. »Natürlich finde ich all das Schreckliche in der Welt gerade genauso grausam wie du. Bedenke aber, bevor du mir Realitätsverleugnung unterstellst, dass ich ein verantwortungsvoller Vater bin und mir erst recht Sorgen über die Zukunft mache!«
»Ihr Heteros mit dem ewigen Totschlagargument, mit Kindern sähe man die Welt ganz anders … Ich kann es langsam nicht mehr hören!« Peer stöhnt genervt und verdreht demonstrativ die Augen.
»Ja ja … weil du nämlich der bist, der die Wahrheit nicht hören will!«
»Du sagst also, ich habe ein gestörtes Verhältnis zur Wahrheit?«
»Sage ich ja gerade nicht! Aber mal ehrlich, wenn nämlich die Welt tatsächlich untergeht, stehst du doch mit Sven Arm in Arm in eurem malerischen Wintergarten und wirst noch begeistert ausrufen: Schau nur Sven, welch schönes Feuerwerk! Also komm mir nicht so!«
»Jetzt tu nicht so, als könnte ich einen Atompilz nicht vom Jahrmarktsfeuerwerk unterscheiden! Außerdem würden bei uns nicht nur wir, sondern auch die frisch umgetopften Orchideen, unsere aufwendigen Frisuren, meine Seidensticker-Hemden und Svens Madonna-T-Shirts im Feuersturm verglühen. So viel zum Thema, wir hätten nicht mehr zu verlieren, als unsere eigenen Leben!«
Tilmann und Peer halten inne und schauen sich angesichts eines weiteren ihrer manchmal sehr bizarren Dialoge fassungslos an. Bei dieser Art von Schlagabtäuschen wäre für Außenstehende nie ganz klar, was noch Witz oder was schon Ernst ist. Und manchmal wissen sie es selber im Eifer des Gefechts nicht mehr. Jetzt müssen sie jedenfalls unvermittelt hysterisch loslachen.
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