1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Marianne wird jetzt nicht nur vom Inhalt der Gedanken ihres Mannes übel, es ist besonders diese singsangartige Melodie, die arrogante Betonung und die altmodische Sprachwahl, mit der Karl sich unnahbar macht, sich ihr entzieht und sie in Ohnmacht stürzen lässt. Da tun sich mit Macht die Abgründe ihrer Vergangenheit auf und auch sie hört die Stimme des Herrn, aber nicht die eines Gottes, sondern die ihres alten Herrn, ihres Vaters. Augenblicklich gerät ihr ganzer Körper in Aufruhr, rast der Puls, muss sie sich fast übergeben, schwitzt und bebt sie, während sie fassungslos ihren Mann anstarrt, der weiterhin milde vor sich hinlächelt.
Mit Macht kommt ein Impuls über sie, mehr einem Instinkt als einem vernünftigen Plan gleich, wie sie noch zu ihm durchdringen und ihren eigenen, unerträglichen Zustand beenden kann. Sie muss zur Brechstange puren, ungezügelten Zorns greifen!
»Du und dein beschissener Glaube machen mich noch völlig verrückt!«, platzt es aus ihr heraus.
»Aber Marianne, du weißt doch, wer laut wird hat Unrecht …«, beschwichtigt Karl vordergründig, weiß aber in der Tiefe seines passiv-aggressiven Herzens, dass er seine Frau so garantiert noch mehr in Rage bringt.
Was natürlich, wie sollte es anders sein, auch prompt passiert.
»Ich hasse es sowieso, wenn du so widerlich salbungsvoll daher quatschst! Überhaupt die ganze Zeit dieser total verlogene Scheiß mit Kirche und heiliger Messe! Und jetzt bist du zu allem Überfluss nicht nur ein Auserwählter, sondern eines der zentralen, spirituellen Umspannwerke im Universum? Was bist du als nächstes? Die rechte Hand Gottes? Gott selber?«
Aus „Sturm Marianne“ droht „Orkan Marianne“ zu werden. Und wenn der losbräche, das weiß auch Karl, würde alles, was sich ihm in den Weg stellte, auf die eine oder andere Art platt gemacht werden.
Dennoch verspürt er eine seltsame Versuchung, diese Naturgewalt auf der anderen Seite endgültig loszutreten.
»Du willst es einfach nicht verstehen, nein, du kannst es dir mit deinem Spatzenhirn auch nicht im Entferntesten vorstellen, welche Bedeutung das alles hat, welchen Einfluss meine Gebete haben! Im Gegenteil, anstatt froh und dankbar zu sein, an der Seite des Mannes leben zu dürfen, der maßgeblich alles mit im Lot hält, machst du mir Vorwürfe und willst nicht mal deinen geringen Anteil leisten, mit dem du mich unterstützen könntest.«
Karl hält dem jetzt laserstrahlartigen Blick seiner vor Zorn bebenden Frau gefasst und herausfordernd lächelnd stand.
Und wieder ist es diese kühle Arroganz ihres Mannes, die jetzt auch die letzte Fessel ihrer guten Vorsätze sprengt. Lautstark bricht aus ihr heraus, was sie um der Kinder Willen bis vor zehn Sekunden noch zurückzuhalten versucht hatte: »Du willst mir, die ich wahrlich viel im Leben durchgemacht habe an Verlogenheit, erzählen, ich soll auf das hören und das glauben, was diese Schmierlappen im Namen Gottes von ihren goldenen Kanzeln verkünden? Im Namen eines Gottes, der mir noch nie geholfen hat und der noch nie irgendwem geholfen hat? Und falls er jemals, jemals , versucht haben sollte zu helfen, hatte er eine sehr merkwürdige Art, das zu zeigen, dein toller Gott. Nee Karl, es tut mir furchtbar leid, aber die Kirche ist in meinen Augen kein Stück besser als alle anderen Sekten auch und ihre größte Stärke ist es, Menschen wie dich nach Strich und Faden zu verarschen! Mit Erfolg, das muss man ihnen lassen, aber vor allem, weil Menschen wie du verarscht werden wollen. Ihr seid wie treudoofe Junkies, die jeden Sonntag in die Kirche rennen, um sich den nächsten Schuss von ihrem Dealer zu erbetteln. Mehr nicht!«
Marianne presst ihre letzten Worte laut und verachtend mit heiserer Stimme und sichtlich geschwollenem Hals mehr heraus, als dass sie noch geordnet spräche. Körperlich ist sie auf Hochspannung, wippt in ihren Hausschuhen unmerklich auf den Fußballen, wie ein erregter Olympiasprinter, der den Startschuss nicht abwarten kann.
Mit tiefer Genugtuung nimmt sie wahr, dass es jetzt die Gesichtszüge des vor ihr sitzenden Karls sind, die für einen entscheidenden Moment entgleisen. Sie weiß, dass sie ihn ins Mark getroffen hat, wie selten zuvor. Vor ihrem geistigen Auge, in ihrer überbordenden Fantasiewelt, die sie mit niemandem je geteilt hat, bläst ein Reiter das Jagdhorn und verkündet nach blutiger und schweißtreibender Hetzjagd, der äußerst wehrhafte Keiler sei erlegt.
Als sie jedoch die erhobene Lanze auf das sterbende, schlammverkrustete und am Boden liegende Tier richtet, bäumt sich dieses blitzschnell vor den entsetzten Augen der umstehenden Jägerschaft auf. Es rast wütend direkt auf Reiterin Marianne los, hat nichts mehr zu verlieren. Ihre geworfene Lanze streift aber noch schmerzhaft schlitzend seinen Hinterschinken.
»Karl, du hältst dich für so toll und überlegen, dabei bist du das ärmste Würstchen, das ich …«, aber der Keiler hakt im Sprung einen unteren Stoßzahn, der besonders gekrümmt aus seinem geifernden Maul ragt, hinter ihre ungeschützte Achillessehne. Diese dehnt sich zwar gefährlich und das umliegende Gewebe reißt in alle Richtungen, hält aber, so dass die fassungslose und vor Schmerz besinnungslos zu werden drohende Reiterin, den Gesetzen der Masse gehorchend, vom Pferd gerissen wird und hart aufschlägt.
»Marianne, du bist und bleibst die gnadenlos und unbeschreiblich dumme Bäuerin, die du immer warst und jeder weiß es, außer dir bornierter Kuh, da du sogar zu dumm bist, um deine himmelschreiende Dummheit zu erkennen!«
Doch die Hand der Reiterin krallt sich entschlossen im Wegschleifen um eine Baumwurzel und ihre Achillessehne reißt mit einem knallartigen Geräusch. Der zur Lichtung strebende Keiler, dort will er seine Todfeindin lustvoll zerfetzen, überschlägt sich und bleibt schreckstarr einen Moment liegen.
»Karl, ich mag ja durchaus eine Spätzünderin sein, dafür bin ich aber im Gegensatz zu dir nicht dem Wahnsinn verfallen und erkenne die billigen Lügen deiner dämlichen Pfaffen, hinter deren Rockschößen du verblendet herrennst, weil du ansonsten kein Rückgrat hast, du charakterloser…«
Der Keiler berappelt sich ein letztes Mal und rast in einem Wirbel aus Tannennadeln und Erdbrocken auf die scheinbar hilflos auf dem Rücken liegende Reiterin zu, will sie gleich hier und jetzt erledigen, ist schon bei und fast über ihr.
»Hätte dich dein ansonsten nutzloser, saufender Vater doch einfach im Tümpel hinter dem Hof ertränkt, als du noch nicht zu fett und maschinenartig warst, das hätte mir und der Welt einiges an Leid …«
Doch die Reiterin reißt ein gezacktes Jagdmesser aus seiner Scheide und rammt es dem sich mit Wucht auf sie wälzenden Keiler bis zum Schaft in die ungeschützte Flanke.
»Und hätte dich doch der ach so heilige Weihbischof direkt erwürgt, nachdem er dem unschuldigen süßen Ministranten Karl eh gerade das Maul gestopft hatte …«
»Marianne, wie verzweifelt musst du dämlichstes Wesen unter der Sonne eigentlich sein, um jetzt auch noch mit perfiden, gotteslästerlichen Behauptungen um die Ecke zu kommen?«, ringt Karl um Fassung, während ihm der kalte Schweiß ausbricht und sich plötzlich sein Hals zuschnürt.
»Lügen? Oder einfach nur die grausame Wahrheit, die der arme geschundene Karl immer wieder in seinen lebhaften Träumen rausposaunt, wenn er mal seine geschätzte Kontrolle so gänzlich verliert! Ich bin vielleicht nicht hochbegabt, aber hören kann ich immer noch ganz gut …!«
Während der Keiler versucht, seine Feindin mit seiner puren Körpermasse zu ersticken, hoffnungsfroh hört er ein erstes Krachen einer ihrer Rippen, dreht sie mit letzter Kraft das Messer in seiner Flanke. Wenn sie hier und jetzt sterben müsste, würde sie nicht alleine sterben.
Karl holt zum letzten Verzweiflungsschlag aus und ihm ist klar, dass selbiger sitzen muss, will er jetzt nicht endgültig untergehen: »Natürlich lügst du!«, schleudert er seiner Frau entgegen, erhebt sich aus dem Sessel und kommt der ihrerseits verdutzten Marianne ungewöhnlich nahe. Ehe sie sich versieht, greift er mit Daumen und Zeigefinger seiner zitternden rechten Hand nach einem Röllchen ihres Doppelkinns, kneift hinein und zieht daran. »Aber wie soll aus einem derart hässlichen Mund auch etwas so Reines und Schönes wie die Wahrheit kommen?«
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