»Das soll um Gottes Willen kein Vorwurf sein! Im Gegenteil werde ich den Verdacht nicht los, Sie fühlen sich vor allem machtlos gegenüber dem gesellschaftlichen Druck hier in Deutschland. Dann wäre eher das Gefühl der Hilflosigkeit dieser Situation gegenüber der Motor Ihrer Depression, oder?«
Seine Patientin im Sessel gegenüber entspannt sich zu Tilmanns Erleichterung wieder etwas. »So kann ich das schon eher annehmen«, entgegnet sie in versöhnlicherem Ton. »Nur der Vorwurf, der dann wohl kein Vorwurf war, hatte mich doch etwas geärgert!«
Tilmann setzt jetzt alles auf eine Karte. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist, sagt er sich: »Der einzige Vorwurf wäre, wenn Sie es überhaupt so nennen wollen, der, dass Sie dem gesellschaftlichen Druck gegenüber vorzeitig … wie soll ich sagen … aufgeben und resignieren?«
Ein langer und ernster, aus zu Schlitzen verengten Augen trifft ihn von der anderen Seite. Frau Krögerschmidt hält den Atem an und Tilmann kann nichts tun, außer zu warten.
Eine gefühlte Ewigkeit später regt sie sich.
»Herr Braun, ja, vielleicht haben Sie recht, wenn Sie anmerken, dass es mir schwer fällt, mit dem Druck und den an mich gestellten Erwartungen umzugehen. Und vielleicht tue mich nach wie vor schwer damit, meine ureigenen Bedürfnisse auszuleben, mein Leben noch aktiver zu gestalten.«
»Ja, ein bisschen kommt es mir bei Ihnen noch so vor. Aber vielleicht nehmen wir das eher als Herausforderung und nicht als Grund zum Resignieren?«
Tilmann wartet ab und hofft, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fallen.
»Danke, dass Sie mich nicht für einen hoffnungslosen Fall halten, aber wie stellen Sie sich das unter den hiesigen Bedingungen vor?«
Tilmann ahnt, dass jetzt vielleicht seine Chance gekommen ist.
»Frau Krögerschmidt, auch in Deutschland, hier zu Hause, könnten Sie bedürfnisgerechte Dinge unternehmen ohne andere zu enttäuschen. Sie können auch hier wirklich nette Menschen treffen! Und Sie müssen dabei ja nicht mal jeder Einladung folgen!«
»Na ja, wenn Sie das so sagen mit dem müssen , muss ich wahrscheinlich mal wieder nichts. Sie wollen mich mal wieder dazu bringen, mehr nein zu sagen, nicht wahr?« Mit einer amüsiert hochgezogenen Augenbraue blickt sie herüber.
»Ich? Wer wäre ich, mir das anzumaßen?«
Willkommen beim edlen Wettstreit der Ritter der Ironie, denkt Tilmann, nun selber angenehm belustigt, aber vor allem erleichtert. Er möchte aber den Ernst der Sache wieder mehr in den Fokus nehmen.
»Und hatten wir nicht noch eine vielleicht etwas banal anmutende Liste mit angenehmen Dingen als Abwehrschild gegen die hinterhältige Depression erstellt?«
Tilmann greift nach seinem Notebook und tut so, als wenn er sich gegen Angreifer zur Wehr setzen muss. »Darf ich überhaupt so respektlos über Ihre Depression reden?«
»Ja schon …«, entgegnet Frau Krögerschmidt zögerlich. Sie versucht tapfer zu lächeln, wendet aber ihren Blick ab und schaut zu Boden.
Eine längere Pause tritt ein. Und es bestätigt sich, dass doch nicht alles Gold ist, was hier heute zwischendurch mal glänzt, denkt Tilmann bedrückt.
»Die Stille sagt mir, dass Sie mit sich selbst im Gespräch sind?«
Langsam hebt Frau Krögerschmidt wieder ihren Blick. Erschreckend glasig sind ihre Augen geworden, denkt Tilmann.
»Herr Braun, Sie wissen, ich komme sehr gerne zu Ihnen. Und Ich sehe auch die Fortschritte in unserer Behandlung, keine Frage. Aber ich muss Ihnen auch sagen, dass mir durch unsere Gespräche immer klarer wird, wie sehr mir meine geliebte Freundin fehlt.«
Pause.
Tilmann weiß, setzt er jetzt zu schnell nach, wird er wieder einen scheinbar paradoxen Abwehrreflex provozieren. Denn bei aller Liebenswürdigkeit dieser Patientin, hat diese zugleich ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Autonomie. Das hatte er zu Beginn der Behandlung etwas unterschätzt, aber bald herausgefunden: Es gab eine klare Grenze bei Frau Krögerschmidt bezüglich der Annahme von noch so gut gemeinten Ratschlägen. Einige Male hatte sie ihm bis dahin vor den Bug schießen müssen.
Zugleich eindringlich und tief traurig schaut sie ihn weiter unvermittelt an.
»Ich kann und will sie nicht ersetzen. Doch manche Erkenntnisse im Leben kommen einem einfach zu spät. Damit muss ich heute leben, so schwer es mir fällt.«
Tilmann beschleicht ein bedrückendes Gefühl nach der Sitzung mit Frau Krögerschmidt. Sie ist gegangen und er hat das Gefühl, etwas Bedeutendes nicht angesprochen zu haben. Eine nagende Ungewissheit bemächtigt sich seiner.
Jetzt, vor seiner Espressomaschine stehend, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Er befürchtet schlicht und ergreifend, seine Patientin könnte suizidgefährdet sein! Aber warum? Diese diffuse Unsicherheit hat zwar jetzt einen Namen bekommen, erscheint dadurch aber nicht viel lösbarer geworden zu sein.
Hatte Peer nicht beim letzten Treffen gesagt, er habe das Gefühl, die Last der Verantwortung nicht mehr tragen zu können? Sollte dieser Virus jetzt etwa auch auf ihn übergesprungen sein? Selbstzweifel helfen jetzt aber nicht, denkt er und konzentriert sich lieber auf das Problem.
So folgt er wieder dem Gedanken der Suizidgefährdung und sucht nach Anhaltspunkten, die konkrete Hinweise geben könnten. So sehr er sich aber bemüht, es bleibt einfach nur diese schreckliche Ungewissheit. Und bevor diese noch in Verzweiflung umschlägt, beschließt er, seine Patientin zwischen den Sitzungen anzurufen, um sie etwas mehr „kontrollieren“ zu können. Irgendwelche kleinen Anlässe lassen sich dafür schon finden, sagt Tilmann zu sich selbst.
Auch wenn es allen therapeutischen Konventionen widerspricht.
Karl hat morgens, noch bevor die Anderen aufgestanden sind, schon eine Stunde hingebungsvoll gebetet. Dann ist er, als alle aus der Wohnung waren, zur Sicherheit auch noch zur Frühmesse gegangen.
Schließlich hat nicht er, Karl, es so entschieden! Und nicht er hat Gott, sondern Gott hat ihn auserwählt, schießt ihm auf dem Weg zur Messe wieder durch den Kopf. Und dieser Gedanke ist nicht nur wahr, weiß er, selbiger fühlt sich auch unmittelbar wahr an. Nie zuvor im Leben hat er so eine tiefe und unumstößliche Gewissheit empfunden. Ganz im Gegenteil war er früher immer der grüblerische, unentschlossene und hadernde Typ gewesen. Ja, einerseits birgt diese Wahrheit, dieser Auftrag, auch eine erhebliche Last in sich, die Last einer enormen Verantwortung. Und manchmal befürchtet er, darunter zusammenzubrechen, regelrecht davon zerquetscht zu werden. Auf der anderen Seite fühlt sich all das absolut erhebend an, dieses plötzliche Empfinden des ganz großen Sinns in seinem Dasein, als sei sein ganzes Leben zwangsläufig auf diesen Punkt zugelaufen.
Umso mehr richtet Karl sich unwillkürlich beim Gehen auf, strebt zielgerichtet, mit schwungvollem Schritt, auf das Kirchenportal zu. Wie viel Energie er in letzter Zeit hat, seitdem er seine wahre Bestimmung gefunden hat!
Lass mich ein gutes Werkzeug in deiner Hand sein, oh Herr, und wirke du durch mich hindurch! Dein Wille ist auch mein Wille. Lange hast du der Menschheit ihre Chance gegeben, ihren eigenen Weg zu finden. Mit Grausen musstest du mit ansehen, wie die Menschen für ihre selbstsüchtigen Ziele deine Schöpfung schändeten. Jetzt zeigst du Gnade und bringst kurz vor der drohenden Apokalypse alles wieder in Ordnung. Und da du dich selber nicht materialisieren, nicht körperlich sichtbar werden kannst, bewirkst du alles über deine Auserwählten. Durch dich erfahre ich diese nicht für möglich gehaltene Erfüllung! Das ist wahres Glück und reinste Liebe, die Liebe zu dir, in Einem.
Karl ist alles so klar, aber er muss noch eine Lösung für seine Therapie finden, in der er nun mal ist. Wie kann er selbige zusätzlich in den Dienst der großen Sache stellen, ohne Gefahr zu laufen, in einer geschlossenen Abteilung zu landen? Mit nichts Geringerem hatte Herr Hammer schließlich gedroht! Da wird ihm schon noch was einfallen, beruhigt er sich.
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