»Du Arschloch!«, vergisst sich Marianne endgültig, holt mit ihrer Rechten aus.
Instinktiv kann Karl den Schlag noch abwehren, packt den Unterarm seiner Frau fest.
Die wird noch wütender und schlägt ihm stattdessen die geballte, aber schwächere Linke ins Gesicht. Die trifft irgendwo, schwungvoll genug, zwischen Jochbein und Oberkiefer. Karls Brille wirbelt durch die Luft.
Regungslosigkeit.
Das hätte er seiner Frau nicht zugetraut. Fassungslos streicht Karl, den Kopf hängen lassend, mit der Hand über die vor Schmerz brennende, rechte Gesichtshälfte.
»Aber Jesus sagt: `Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halte auch die linke hin´ …!« Mit herausforderndem Blick wendet er sich wieder seiner Frau zu und reckt ihr die linke Gesichtshälfte entgegen.
Stille.
»Also – schlag zu!«
Marianne steht wie zur Salzsäule erstarrt da. Hat sie gerade wirklich ihren eigenen Mann geschlagen? Sie, die zuvor noch keinem Menschen Gewalt angetan hat? Zugleich ist es, nach dieser unglaublichen Beleidigung, eine richtige Befreiung und Genugtuung für sie.
Keiler und Reiterin, beide schwerstens verwundet, liegen knäuelartig ineinander verschränkt und niemand aus der hilflosen, nun hinzu geeilten Reiterschaft könnte beurteilen, ob da irgendwo unter Schlamm und Blut noch Leben ist.
Was Karl und Marianne, die sich jetzt schweigend und benommen voneinander abwenden, nicht mitbekommen haben: Ihre Kinder, Sarah und David, stehen still weinend im Flur. Durch den Spalt der nur angelehnten Tür zum Wohnzimmer haben sie, starr vor Schock, dieses Drama gesehen und gehört. Sie haben vielleicht nicht alles verstanden, aber in diesem Moment sind zwei kleine Welten untergegangen.
»Ach, meine verehrte Frau Krögerschmidt, wie lange sind Sie jetzt bei mir in Behandlung?«, fragt Tilmann seine, in Lebensjahren gesehen, älteste und ihm sehr am Herzen liegende Patientin. Er konnte schon immer gut mit älteren Damen umgehen. Und meistens beruhte diese unausgesprochene Sympathie, ohne dass er es sich hätte erklären können, auf Gegenseitigkeit.
»Ich kann es Ihnen gar nicht genau sagen, aber es sind schon einige Monate, so circa ein halbes Jahr«, sinniert sie etwas in sich gekehrt, »wovon wir allerdings die Urlaubswochen abziehen müssen«, setzt sie in wesentlich bestimmterem Tonfall fort.
Tilmann ist erleichtert, Frau Krögerschmidt wach und innerlich aufgeräumt wirkend zu erleben. Das war nicht immer selbstverständlich.
»Ach ja, Ihre wundervollen Wochen auf Mallorca in dieser, das soll nicht neidisch klingen, herrlichen Finca. Dort ging es Ihnen bestimmt wieder durchweg gut, will ich doch hoffen?« Tilmann weiß, Frau Krögerschmidt mag seine leicht spitzbübische Art und er muss sich dafür auch nicht verstellen. Tilmann ist spitzbübisch durch und durch.
»Ja und nein«, windet sie sich wieder nachdenklicher. »Ja, weil dort geht es mir deutlich besser als in Deutschland, keine Frage, vor allem meine Gemütslage ist dort viel stabiler, auch richtig. Und nein, weil mir aber meine Freundin auf Mallorca immer wieder ganz enorm fehlt, denn gerade da konnten wir ganz unbeschwert leben.«
Ihr Blick ist von Trauer umflort und geht durch Tilmann hindurch.
Er schweigt.
»Dort fühlten wir uns nicht kontrolliert, mussten keinen gesellschaftlichen Zwängen, Vorstellungen und Klischees entsprechen, konnten einfach unsere Liebe ausleben, verstehen Sie?«, ist sie jetzt wieder aufgewühlter. Die Augen seiner Patientin fixieren die seinen fragend.
»Insbesondere ich …«, drängt es sie, direkt fortzusetzen, bricht dann aber in resignierendem Tonfall ab.
Tilmann ist berührt, wie immer, wenn Frau Krögerschmidt von ihren Schicksalsschlägen erzählt und für Momente ihre sonst gewohnte Fassung verliert. Dennoch möchte er sie sich nicht ganz in ihren Emotionen verlieren lassen.
»Frau Krögerschmidt, ich nehme in diesem Moment einerseits sehr viel Trauer und Schmerz wahr …«
Frau Krögerschmidt nickt verhalten, aber zustimmend, während sich ihr für Millisekunden Bilder der verstorbenen Freundin aufdrängen.
»Aber etwas anderes fällt mir noch auf, und vielleicht gibt es einen Zusammenhang zu Aspekten, die wir schon besprochen haben«, fährt Tilmann fort.
»Was denn, Herr Braun?«, ist sie ihrerseits nun ehrlich neugierig und schüttelt die Bilder durch kaum sichtbare Kopfbewegungen weg.
»Also, ich denke gerade, vielleicht gilt für Ihr Lebensgefühl heute etwas Ähnliches wie damals?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie vollkommen verstehe?«
»Ich denke über den gesellschaftlichen Druck nach im Zusammenhang mit der Sehnsucht nach Ihrer Freundin.«
»Aha?«
»Je mehr Sie sich auch heute noch den gesellschaftlichen Verpflichtungen verschrieben fühlen, selbst wenn eine Liberalisierung stattgefunden hat, desto stärker empfinden Sie die Depression und umso größer ist die Sehnsucht nach Ihrer Freundin. Was denken Sie über meine halsbrecherische Hypothese?«
Durch Verhaltensanalysen 3hatte Tilmann in den letzten Monaten mit seiner Patientin herausgearbeitet, was ihre Depression in der Gegenwart aufrechterhielt oder gar verstärkte, aber auch, was ihre Symptome linderte. Beiden war aufgefallen, dass alleine der Aspekt des Lebensumfeldes einen entscheidenden Einfluss auf Frau Krögerschmidts Stimmungslage hatte. Deshalb liebt Tilmann seine Verhaltensanalysen auch so sehr, selbst wenn die Bezeichnung eher den Charme von Begriffen wie Kurbelwelle , schnellbindender Zement oder Versorgungsausgleichgesetz versprüht. Mit ihrer Hilfe kann er sogenannte Mikrosituationen auf allen Erlebensebenen einer Patientin in ihrer Symptomatik erfassen. Tilmanns Motto lautet: Ein Therapeut ohne Verhaltensanalyse ist so exakt wie ein Biologe ohne Mikroskop.
»Dann wäre also nicht nur die Sonne Spaniens und die gute Luft auf der Finca gut für mich, sondern unbewusst auch das gesellschaftliche Umfeld, auch wenn Sie lieber von Konditionierung sprechen, Herr Braun?«
Jetzt ist es Frau Krögerschmidt mit ihrem hintergründig- trockenen Humor, die Tilmann zuzwinkert.
»Sie haben doch, wie Sie wissen, Narrenfreiheit bei mir und dürfen auch unbewusst sagen. Aber im Ernst, es war doch erklärungsbedürftig, dass der Depressionstest zwar bestätigte, dass Ihr Leidensdruck erheblich nachgelassen hatte, aber immer noch eine nicht unerhebliche Restsymptomatik bestand und besteht?«
Frau Krögerschmidt windet sich förmlich in ihrem Sessel, wippt nervös mit dem Fuß des rechten Beines, welches sie über das linke geschlagen hat, seufzt.
»Ach, Herr Braun, wenn bei einer alten Frau wie mir Reste von Depressionen bleiben, geht davon sicher die Welt nicht unter. Wen interessiert das schon?«
»Jetzt bin ich aber ehrlich schockiert!«, empört sich Tilmann ernsthaft. »Trotz all ihrer Fortschritte in der Therapie haben Sie immer wieder schlechte Phasen. Ihre Depression meldet sich zurück, klopft bei Ihnen an und freundlich wie Sie sind, bitten Sie sie auch noch herein!«
Zu Frau Krögerschmidt hatte Tilmann von Anfang an eine besondere Beziehung. Er „darf“, trotz ihres erheblichen Leidensdrucks, eigentlich immer wieder auch humorvoll mit ihr umgehen, ohne dass sich Frau Krögerschmidt gekränkt fühlt.
Nur heute geht die gewohnte Leichtigkeit zwischen ihnen irgendwie verloren, denkt Tilmann beunruhigt. Oder besser, irgendetwas Dunkles grätscht subtil dazwischen.
Er wird umgehend in seiner Sorge bestätigt.
Herausfordernd schaut sie Tilmann an. »Aber Herr Braun, jetzt bin ich doch etwas pikiert! Das klingt ja direkt vorwurfsvoll?«
Der wiederum hält dem Blick stand, ist aber verunsichert. Alles ist anders als sonst, und zwar in einer Weise, die er nicht greifen kann. Und Tilmann mag keine Situationen, die er nicht greifen kann.
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