Denn Herr Hammer ist mit Sicherheit nicht sein größtes Problem.
Und so macht er sich nach dem Gottesdienst noch auf einen anderen Weg. Auch wenn seine Frau von seinen Kontrollgängen nichts wissen darf, muss er sich einfach vergewissern, dass es seinen Kindern jetzt wirklich gut geht. Man kann sich doch nie ganz sicher sein. Bestimmt ziehen die guten Kräfte und Menschen auf der Welt automatisch die bösen an, wie eine draußen in tiefer Dunkelheit stehende Kerze die Motten. Darüber macht er sich in den letzten Wochen mehr und mehr Gedanken. Sicher hält der Herr seine Hand schützend über Karl, aber tut er es mit letzter Gewissheit auch bei seinen Kindern?
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!«, murmelt Karl vor sich hin, während er sich dem Gelände der Heilig-Geist-Schule nähert, welches nicht weit von der Kirche entfernt liegt.
Mit seiner Größe von unter einem Meter achtzig fällt Karl zwischen den anderen Fußgängern nicht auf. „Unauffälligkeit“ könnte in der Tat auch heute wieder sein zweiter Vorname lauten, was einmal mehr durch seine schlichte Kleidung bestätigt wird. Das ist kein Zufall: Farbenfrohe und erst recht schrille Kleidung, aber auch Markenklamotten sind in seinen Augen pure Sünde, Mittel zum Zweck des Antichristen.
Der Antichrist will uns alle beherrschen, und dafür ist ihm jedes Mittel recht!
Schon während der Messe hatte Karl angestrengt darüber nachgedacht, in welcher Gestalt sich der Antichrist Sarah und David gegenüber zeigen würde: vielleicht als neuer, besonders charmanter Referendar, der sie missbrauchen und damit ihre Unschuld rauben will? Ja, das Böse setzt viele Masken auf, aber Karl wird es herausfinden.
»Feigling!«, entfährt es ihm. »Aber nicht mit mir, du Elender!«
Karl ist selten so entschieden gewesen wie jetzt und ballt im Gehen die Fäuste. Die letzte gewonnene Schlacht gegenüber Marianne hat ihm weiteren Auftrieb gegeben. Unglaublich, wie fassungslos sie über seine Reaktion auf ihren Faustschlag war! Zugegeben, er war ja selber überrascht gewesen über sein eigenes Handeln, ihr einfach die andere Wange hinzuhalten! Nun, da war er eben einer wahrhaft göttlichen Eingebung gefolgt, weiß er jetzt.
Aber er muss auf seiner Mission heute zugleich vorsichtig sein, ermahnt er sich. Bei aller Liebe zu göttlicher Führung will er einen weiteren schlimmen Streit mit seiner Frau möglichst vermeiden. Wüsste sie, dass er, statt auf Jobsuche zu sein, diese Art von Kontrollgängen durchführt, würde sie ihm mit steigender Heftigkeit vorwerfen, er sei nun endgültig verrückt geworden, ein Versager sowieso, ein Nichtsnutz, ein Schlappschwanz und so weiter. So klingt ihre Stimme gerade sehr aufdringlich in seiner Vorstellung.
Unvermittelt flucht er ins Nirgendwo: »Halt doch einmal deine dämliche Fresse!«
Ein junger Skinhead, mit im Mundwinkel hängender Zigarette und zwei vollen Einkaufstüten beladen, kreuzt in diesem Moment Karls Weg. An der letzten Straßenecke vor der Schule bleibt er fassungslos stehen, seine kalten Augen zu Schlitzen verengt: »Was war das? Du kriegst gleich was auf die Fresse, aber so richtig!«
Noch irritierter ist er jedoch über die spontane Antwort des murmelnden Mannes in der Zopfmusterstrickjacke, der sich ihm nicht einmal eingeschüchtert zuwendet: »Der Herr segne dich und sei mit dir«, sagt dieser gedankenverloren und wirkt vollkommen in sich versunken.
Dem verwirrten Skinhead fällt die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel, ausgerechnet knöchelseits in das Innere seines zu locker geschnürten linken Ledertreters. »Aua! Verdammte Scheiße … Du dämliches Arschloch, na warte!«
Und dann lässt er, ein Unglück kommt selten allein, die Tüte mit den fünfzehn Herforder-Flaschen los, dass es nur so scheppert und knirscht. Aber wenigstens löscht die schäumende Bierfontäne die Zigarette in seinem Schnürstiefel. In einer wilden Mischung aus ebenso schäumender Wut und Konfusion schaut er die Straße hinunter, aber nichts mehr zu sehen von dem seltsamen Typen mit der spitzen Nase. Die mutete ihn schon verdächtig jüdisch an.
Soll er noch hinterher rennen und dem mit seinen arischen Fäusten mal zeigen, wo der Hammer hängt? Er beginnt, sich innerlich aufzupumpen, hält dann aber inne. Nein, beschließt er, wahre germanische Überlegenheit zeigt sich, indem man auch mal einen Untermenschen laufen lässt! Aber verdient hätte der es schon. Unschlüssig steht er noch einen Moment da, in dem Arrangement aus Plastiktüte, Scherben und sich ausbreitender Bierlache.
»Heil Hitler!«, ruft er dann urplötzlich, weil er nicht einfach gar nichts machen kann. Automatisch will er dazu den rechten Arm hochreißen, was grotesk wirkt, da er hier die andere Einkaufstüte in der Hand hat.
Nie wieder will er einkaufen gehen, schwört er sich, das sei eh Frauensache und unter seiner Würde, ab heute sowieso. Fluchend trollt er sich.
Karl, der diese Begegnung nur am Rande wahrgenommen hat, sitzt fünf Minuten später unmittelbar gegenüber des Pausenhofs der Heilig-Geist-Schule und ist derweil in ganz andere gedankliche Dramen vertieft. Gerade treibt es ihn um, alles zwischen Marianne und ihm könnte soweit eskalieren, dass sie sich am Ende womöglich von ihm scheiden ließe und die Kinder mitnähme. Um diese schreckliche Vorstellung nicht weiter bohren zu lassen, bekreuzigt er sich, faltet dann die Hände zu einem kurzen, aber intensiven Gebet. Danach ist er sich sicher, wenn Marianne ihn heute Abend nicht mitsamt der Kinder verließe, so hätten seine Gebete Wirkung gezeigt.
Mit der beruhigenden Wirkung des Gebets fällt ihm auch wieder ein, warum er hier eigentlich sitzt. Von einer gut durch Büsche und Bäume getarnten Ecke des Schulhofs beobachtet er nun von außen, es herrscht reges Pausengetümmel, seine Kinder beim Spielen. Sie spielen zusammen ganz nahe dem Klettergerüst und vor allem der Schaukel. Sarah und David scheinen schweigend mit ihren Füßen Sand von A nach B zu verschieben, genau kann er es nicht erkennen.
Aber da, Karl reißt schockiert die Augen auf, sein Herz rast, nimmt sich ein kleiner Junge mit dunklem Teint und schwarzen Haaren die Schaukel, zieht sie hoch und grinst hämisch zu seinen Kindern rüber.
Diese Ausgeburt der Hölle, denkt Karl, denn „kleiner Satansbraten“ trifft es in seinen Augen nicht mehr, haut doch gleich seinen Kindern mit voller Absicht die Schaukel in den Rücken, um sie in die Querschnittslähmung und den Rollstuhl zu befördern! Er muss sie retten!!!
Karl ist versucht zu schreien, weiß aber, dass er gegen die Lautstärke der Kinder nicht ankommt. Panisch stürzt er los und will das Unmögliche möglich machen. Doch um auf den Schulhof zu kommen, müsste er zunächst um den hohen Zaun herumlaufen, dann durch das Tor und die Menge der vielen Kinder hindurch. Wird er es noch rechtzeitig schaffen?
Mit Gottes Hilfe!
Ganz außer sich rennt er weiter, ungeachtet dessen, dass er andere Passanten und dann die Kinder auf dem Schulhof anrempeln würde. Egal, er muss dem Antichristen Einhalt gebieten!
In diesem Moment erschallt ein schrilles Klingeln aus den Lautsprechern und das Ende der Pause ist gekommen. Die Kinder hören, mehr oder weniger enttäuscht, auf zu spielen und schlendern in Richtung ihrer Klassenräume zurück. Auch Sarah und David gehen schweigend nebeneinander zurück in ihre Klassenräume. Der dunkelhäutige Junge mit den schwarzen Haaren hingegen bleibt noch bei den Spielgeräten und ergreift seine Chance. Endlich stören ihn die anderen nicht mehr und er hat die Schaukel für sich alleine. Mit Schwung schmeißt er sich bäuchlings auf die Schaukel, pendelt lachend hin und her und träumt mit wehendem Afrolook vom Fliegen.
Karl bleibt unvermittelt stehen, ist außer Atem, hustet und fühlt sich nur noch verwirrt. Endlich war sein Einsatz gefordert, wollte er seine Fähigkeiten zeigen und dann löst sich die Situation so banal auf? Er ist tief enttäuscht, schnauft, steht erschöpft an das Eingangstor zum Schulhof gelehnt.
Читать дальше