»Ich bete nur schnell zu Ende, dann können wir!«, war seine Reaktion gewesen und Marianne war wie vom Schlag getroffen.
Als ihnen der Arzt eine dreiviertel Stunde später mitteilte, die Ultraschalluntersuchung habe leider die klinischen Zeichen eines kompletten Aborts bestätigt, war Marianne innerlich versteinert. Sie reagierte gleichgültig, als der Arzt sagte, es wäre wahrscheinlich auch nichts zu machen gewesen, wenn sie in der Sekunde des Beginns der Beschwerden im Krankenhaus gewesen wäre.
Auf der Rückfahrt hatte sie einfach nur schweigend aus dem Fenster gestarrt. Karl fühlte sich hilflos und verstieg sich zu der Aussage, der Herr habe es gegeben und der Herr habe es genommen.
»Dann ist er eben endgültig nicht mehr mein Herr«, hatte sie kalt erwidert.
Es folgten Jahre, in denen sie nebeneinander her lebten und Marianne beschlossen hatte, den Kinderwunsch abzuschreiben. Auch von allem anderen zog sie sich zurück, insbesondere von Freundinnen mit Kindern.
Als sie nach mehreren Jahren, gegen alle Wahrscheinlichkeiten und trotz ihres ermüdeten Sexuallebens, mit vierzig und zweiundvierzig doch noch zweimal schwanger wurde, schlugen die Ärzte jeweils Alarm. Sowieso und mit ihrer Vorgeschichte erstrecht seien es Hochrisiko-Schwangerschaften. Auch Karl war mindestens unschlüssig, wie stark er mit Mitte beziehungsweise Ende vierzig sich noch auf das Dasein als Vater freuen sollte, trug aber die Entscheidung seiner Frau mit. Er wusste, wenn er es nicht getan hätte, wäre die Ehe am Ende gewesen.
Marianne hatte sämtliche dieser zunächst teils heftigen Reaktionen fast schon genossen. Sie hatte genossen, dass endlich mal wieder sie entschied und auch das Ende ihrer gefühlten Bedeutungslosigkeit.
Dennoch: Trotz zweier gesunder Kinder, die sie von Anfang an aufrichtig liebte, hinterließ der für sie grauenhafte Verlust ihrer ersten Schwangerschaft eine tiefe Spur, wie einen Riss im Fundament oder einen inneren Hohlraum. Instinktiv verspürte sie vom ersten Tag an, als sie abends heimlich weinend in die Toilette starrte, durch die der Fötus entschwunden war, eine unbestimmte Angst, dass sich irgendwann etwas anderes an die Stelle setzen würde, wo ihr erstes Kind hätte heranwachsen sollen.
»Hast du heute wieder einen Termin bei deinem tollen Herrn Hammer?«, fragt Marianne, übellaunig am Frühstückstisch sitzend. Sie hatte sich nach dem Aufstehen lediglich ihren abgewetzten, alten Bademantel übergeworfen und auch ihre Haare nicht einmal grob gebürstet. Ihr war heute offensichtlich überhaupt nicht danach, sich für den Tag fertig zu machen, auch nicht für ihren Mann.
»Ja sicher habe ich heute einen Termin bei ihm! Und das weißt du übrigens auch ganz genau … Und ja, ich werde ihn fragen, ob du auch einmal für eine Sitzung dabei sein kannst, weil, das ist es doch, was du eigentlich wissen möchtest?!«
Karl reagiert genervter und in schärferem Tonfall, als er es von sich kennt. Er weiß selber nicht, wie er das finden soll. Irgendetwas passiert in ihm.
Marianne hatte schon wiederholt darauf gedrängt, mindestens einmal mit zur Therapie zu kommen. Karl ahnt, seine Frau möchte unbedingt mit Herrn Hammer reden, weil sie misstrauisch ist. Sie denkt bestimmt, dass er seinem Therapeuten zwar Vieles, aber bestimmt nicht alles über seinen Glaubenstick , seinen Wahn und noch weniger über die dramatische Situation in der Ehe erzählt.
Das Gleiche gilt für ihre ewige Kritik an ihm, dass er engere Kontakte partout meide. Sie argumentierte dann jedes Mal mit den Nachbarn, mit denen sie seit Jahren in einer Straße lebten. Die grüße er zwar, wenn auch sehr gequält, treffe sie auch zu Geburtstagsfesten, aber mehr eben nicht. Hinsichtlich Smalltalk, zum Beispiel über den Zaun hinweg, sei er ebenfalls der totale Rohrkrepierer. Und hätte sie nicht wenigstens die Bekanntschaften in der Nachbarschaft etwas gepflegt, hätte er neben den wenigen Verwandten überhaupt keine Sozialkontakte mehr.
Wenn seine Frau aber erstmal auf Touren ist, muss natürlich alles gesagt werden, bevor sie aus Versehen ein gutes Haar an ihm lässt. So regt sie sich als Nächstes wie immer darüber auf, dass der feine Herr sich zu schade sei, sogar in kleinen Runden etwas Relevantes von sich zu geben. Stattdessen hülle er sich bedeutungsvoll in Schweigen.
Umso mehr freue es sie, dass er sich endlich für eine Psychotherapie entschieden habe. Schließlich sterbe die Hoffnung als Letztes, selbst in seinem Fall, und der sei ja nun bekanntermaßen ein besonders schwieriger.
Doch bis heute könne sie beim besten Willen keine positiven Entwicklungen sehen, sagte sie neulich kurz vor dem Einschlafen. Als er erwiderte, wie wichtig ihm die Therapie und wie sympathisch ihm Herr Hammer sei, schüttelte sie mitleidig den Kopf. Oh Gott, wie er ihren arroganten Blick hasst, der mit diesem Kopfschütteln verbunden ist! Aber wieder konnte er nichts entgegnen, auch wenn er doch eigentlich der Schlauere von ihnen ist.
Stattdessen setzte Marianne ungerührt noch einen drauf. Er müsse doch einsehen, dass es nicht nur nicht besser werde mit ihm, sondern sich sein Wahn von Monat zu Monat sogar noch steigere. Und das habe sie niemals für möglich gehalten.
Was denn im Übrigen seine Sympathie für einen Therapeuten nütze, von der sie sich schließlich auch nichts kaufen könne. Aber gut, dann könne er ja gleich den Herrn Hammer heiraten, falls aus Sympathie vielleicht noch Liebe werde. Das würde dann auch einiges erklären, was untenrum nicht mehr zwischen ihnen laufe und jeder solle eben auf seine Art glücklich werden. Aber dann werde er natürlich die Kinder nicht mehr sehen, das sei ihm hoffentlich klar!
Jetzt hat er wieder ihren überlegenen, nein, triumphierenden Gesichtsausdruck im Dämmerlicht ihrer Leselampe vor Augen und wie er wieder nur umständlich und hilflos reagieren konnte. Schließlich sei er ja noch gar nicht so lange bei seinem Therapeuten. Sowas brauche natürlich Zeit und Herr Hammer habe schon gesagt, Marianne könne gerne mitkommen, aber erst, wenn er, Karl, bereit dazu sei und vielleicht schon erste Veränderungen eingetreten seien.
Und dass er unter einem Wahn leide, wäre ja ihre persönliche Meinung und er werde ihr schon noch beweisen, dass es nicht an dem sei. Aber in Wirklichkeit sei sie ja nur von Neid auf seinen Draht nach oben innerlich ganz zerfressen. Und in diesem Moment, als er gerade dabei war, innerlich auf Augenhöhe mit seiner Frau zu kommen, hatte sie sich mit einem tiefen Seufzer weggedreht und war fast schon eingeschlafen. In sein ohnmächtig wütendes Schweigen hinein murmelte sie nur noch, für Karls Ohren kaum vernehmlich »Euch beiden muss mal jemand ordentlich Feuer unterm Hintern machen, sonst wird das doch alles nichts …«
Und jetzt, wo sie hier Kaffee schlürfend am Küchentisch sitzen und sich mit ihren Blicken belauern, derweil die Kinder lustlos auf ihren Käsebroten herumkauen, würde Marianne all diese unterschwelligen Bösartigkeiten natürlich nicht offen wiederholen. Das weiß Karl, aber ihm reicht auch schon der verächtliche Blick seiner Frau, in dem all diese sarkastischen Vorwürfe zu liegen scheinen.
Dennoch ist er froh, dass heute wenigstens nicht weiter scharf geschossen wird.
Stattdessen passiert etwas viel Schlimmeres und vor allem vollkommen Unerwartetes.
»Papa«, fragt David, »warum gehst du denn jetzt eigentlich zu einem Seelenklempner?«
Karl zuckt zusammen. Sein kleiner Sohn ist ein Meister darin, unbeteiligt und desinteressiert zu tun, aber natürlich ist ihm das Wortgefecht um den Therapietermin nicht entgangen. Wie immer hat es hinter Davids kindlicher Stirn sehr gearbeitet und wie immer haben seine Eltern dessen direkte Art vollkommen unterschätzt.
Marianne scheint positiv überrascht, denn ihre Miene hellt sich augenblicklich auf und mit Zufriedenheit schaut sie auf David, dann herausfordernd und mit selbstgefälligem Lächeln zu ihrem Mann hinüber.
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