Er versucht seinem Patienten zu erklären, was dieser zwischen den Sitzungen noch für sich machen kann und welche weiteren Ansätze in den eigentlichen Sitzungen hilfreich sein könnten. Mit seiner etwas ausschweifenden, aber begeisterten Darstellung der Behandlung versucht Tilmann, seinem Patienten Mut zu machen und letztlich zu vermitteln: Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, etwas an der misslichen Ausgangssituation und der Symptomatik zu verändern, und viele Wege führen dabei nach Rom.
Herr Meyer zu Westring hört äußerst interessiert zu, dennoch spürt Tilmann, dass ihn noch etwas quält.
Er hält einen Moment inne.
»Sie denken noch an etwas anderes …«
Herr Meyer zu Westring schaut verlegen weg, errötet ein wenig.
»Neben den depressiven Gefühlen … plagt mich auch ein schlechtes Gewissen.«
»Sie müssen nicht, aber Sie können es hier natürlich äußern … das wissen Sie ja … was immer es ist. Aber bislang hatten Sie mir noch nichts in der Richtung erzählt, oder irre ich mich da?«
»Sie irren sich nicht.« Herr Meyer zu Westring rutscht sehr tief in den Sessel, so als wolle er in diesem am liebsten jetzt direkt versinken. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen, aber ich glaube, es gehört zu meiner Krankheit dazu. Sie müssen wissen, Herr Braun, es gab bereits einmal eine schwierige Zeit in meinem Leben, in der ich auf psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe angewiesen war.«
Tilmann nickt seinem Patienten aufmunternd zu.
»In dieser Zeit war ich von dem Gedanken besessen, im Namen von Gott Gutes tun zu müssen. Ich habe beispielsweise Brötchen gekauft und diese den Menschen auf der Straße geschenkt. Allerdings waren es keine Bettler oder so, sondern irgendwelche, mir unbekannte Menschen, die dann sehr verwirrt waren.«
»Das kann ich mir vorstellen. Es war sicher eher ungewöhnlich für diese Menschen, plötzlich Brötchen geschenkt zu bekommen …«
»Und dann habe ich den Personen mit sehr viel Nachdruck versucht klar zu machen, dass es ihnen schlecht geht, obwohl ich nichts von ihnen wusste.«
»Sie sagten, Sie seien in der Zeit sowohl psychiatrisch als auch psychotherapeutisch versorgt worden. Gab es eine Diagnose? Bekamen Sie auch Medikamente?«
»Mein Arzt sprach von religiösem Wahn und verschrieb mir Medikamente. Mit Hilfe der Pillen und der Psychotherapie konnte ich den Wahn überwinden …«
Herr Meyer zu Westring sieht sehr traurig aus, was Tilmann nicht entgeht: »Da scheint aber noch mehr hinter zu stecken, oder?«
»Ja … doch … es gab reichlich skurrile Situationen, für die ich mich heute sehr schäme. Es sind die Erinnerungen an diese Situationen, die mich noch heute davon abhalten, auf Menschen zuzugehen. Ich habe einfach Angst, dass ich mich wieder peinlichst daneben benehmen könnte.«
»Vielleicht machen wir es einfach so, wenn es Ihnen recht ist, dass Sie mir die für Sie schlimmste Situation erzählen. Dazu könnten wir dann eine bestimmte Übung machen und am Ende werden Sie feststellen, dass Ihr Schamgefühl mindestens deutlich reduziert oder sogar quasi weg ist.«
Herr Meyer zu Westring schaut Tilmann nachdenklich an und lässt seinen Kopf dabei leicht von links nach rechts und wieder zurück pendeln. Seine Ambivalenz ist in diesem Augenblick mehr als sichtbar. Er zweifelt nicht an der Verschwiegenheit seines Therapeuten. Er hat auch viel Vertrauen in dessen Professionalität, aber es fällt ihm einfach unglaublich schwer, sein Schamgefühl zu überwinden.
»Ach, es nützt ja nichts … Wenn mir die Behandlung helfen soll, muss ich Ihnen auch alles sagen.«
»Herr Meyer zu Westring, zusammen schaffen wir das schon.«
Im Blick seines Patienten mischen sich Scham und Verzweiflung, aber auch ein kleiner Funke Hoffnung. Er atmet hörbar tief ein und aus, zuckt mit den Schultern und gibt sich der Situation hin.
»Das schlimmste Erlebnis, die schlimmste Erinnerung, die mich manchmal auch nachts in meinen Träumen einholt, und zwar so, dass ich aufschrecke und Herzrasen habe, ist mein Auftritt im Kloster.«
»Im Kloster? Ein Auftritt?« Tilmann ist überrascht, etwas verwirrt, ist aber auch ehrlich neugierig auf eine ungewöhnliche Geschichte. Patienten berichten ihm immer mal wieder Begebenheiten, von denen er manches Mal denkt, das hätte Alfred Hitchcock bestimmt nicht besser kreieren können. Noch mehr ist er dann von seiner Profession begeistert, wenn seine Patienten, im optimalen Fall, sogar selbst über Erlebtes lachen können.
»Ich war damals, wie gesagt, davon überzeugt, Gott hätte mich auserwählt, Menschen glücklich zu machen. Gott gab mir, das mag sich sicherlich für Sie total verrückt anhören, aber es war so - Gott gab mir den Auftrag, die Nonnen im Kloster glücklich zu machen.
Also fuhr ich zum nächsten Kloster, parkte mein Auto und betrat das Haupthaus. In der Empfangshalle kamen drei Nonnen auf mich zu und begrüßten mich. Ich grüßte zurück und holte meine kunterbunten Kondome aus der Tasche. Ich war davon überzeugt, dass die Nonnen mehr Spaß an ihrem Leben haben würden, wenn ich ihnen Kondome gebe und ihnen zeige, was sie damit anstellen können.
Wie Sie sich vorstellen können, waren die Nonnen mehr als überrascht. Geschockt waren sie aber erst, als ich meine Hose öffnete, meinen besten Freund auspackte und ihnen zeigte, wie ein Kondom anzuwenden sei. Ich stand also mit erigiertem Glied vor den Gottesfrauen.
Vor Entsetzen schrien die Damen auf, als ich eine von ihnen aufforderte, ein Kondom auszupacken und es mir überzustreifen. Heute bin ich froh, dass in diesem Moment ein Geistlicher kam, sich vor die hoch erröteten Nonnen stellte und mir meine Kondome abnahm. Mit seiner ruhigen, beschwichtigenden Stimme konnte er mich auch überzeugen, meinen besten Freund wieder einzupacken und das Kloster zu verlassen. Ich glaube, wenn der Prior in dem Moment nicht anwesend gewesen wäre, hätte ich eine der Nonnen auch noch zum Sex überreden wollen.«
Tilmann hört seinem Patienten aufmerksam zu und stellt sich, vor seinem inneren Auge, die Szenerie vor und muss sich sehr beherrschen, nicht laut zu lachen. Doch dafür ist er Profi genug, Herrn Meyer zu Westring nichts von seiner Amüsiertheit merken zu lassen. Ferner ist ihm sehr bewusst, dass sein Patient gerade jetzt seine Hilfe benötigt, da die Situation für ihn mit viel Scham besetzt ist.
Theodor Konrad Wolf sitzt am Mittagstisch in der AMEOS-Klinik, geschlossene Abteilung. Er stochert in seinem Essen herum: lauwarme, vor Fett triefende, labbrige Bratkartoffeln mit zwei Matjesfilets. Verschlagen schaut er seine drei Tischnachbarn an. Seit seiner Festnahme nach der gescheiterten Entführung und einem Nervenzusammenbruch, denkt er darüber nach, wie alles nur so kläglich scheitern konnte. Schließlich hatte er doch alles perfekt geplant!
»Was ist los? Du schaust uns so … so … provozierend an? Ist dir das Essen auf den Magen geschlagen?«
»Ach was …«, gibt Theodor Konrad mürrisch zurück.
»Oder war es doch die Gruppentherapie vorhin, als dich die Therapeutin noch einmal auf deine Mutter angesprochen hat?«, fragt Friederich, ein fünfunddreißigjähriger Patient der gleichen Abteilung.
Sofort steigt Wut in Theodor Konrad auf: immer wieder seine Scheiß-Mutter! Mit der Wut drängen sich zeitgleich auch Bilder aus seiner Kindheit auf, unkontrollierbare Erinnerungen, die für Millisekunden aufblitzen und die dazugehörende Übelkeit lässt auch nicht auf sich warten. Theodor Konrad weiß aber genau, dass er hier seine Wut kontrollieren muss. Je angepasster er sich präsentiert, umso besser wird seine Beurteilung ausfallen und umso geringer wird seine Strafe letztlich sein.
»Das Essen hier ist unausstehlich! Normalerweise bin ich da ganz Anderes gewohnt!«
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