„Iiiiihhhhh! Das soll ich anziehen?“, fragte Sinja und verzog das Gesicht.
„Das ziehst du an!“, antwortete Emelda völlig ungerührt.
„Das ist der totale Styleshocker!“, rief Sinja angewidert und hielt das Lederhemd mit ausgestrecktem Arm vor sich.
„Meine Liebe, das ist die Art von Kleidung, die du hier am besten trägst.
Es ist die Kleidung der Waldläufer, wie ich schon sagte. Du kannst dich darin gut bewegen und auch mal eine Dunkelzeit darin schlafen. Sie wird dich wärmen, dich schützen und sie wird dafür sorgen, dass du in den Wäldern nicht gleich von jedem entdeckt wirst. Du solltest das jetzt anziehen, damit wir vorwärtskommen.“
Emeldas Ansprache und der Blick, den sie Sinja dabei zuwarf, waren klar und mehr als deutlich. Sinja wagte nicht, noch irgendetwas zum Thema Kleidung zu sagen.
„Oh Mann“, knurrte sie nur noch in sich hinein und machte sich an die Arbeit.
Alle Kleidungsstücke waren passend in ihrer Größe vorhanden und ließen sich erstaunlicherweise wirklich einfach anziehen. Sinja war überrascht, wie leicht das ging.
„Na, zum Glück sehen mich meine Freundinnen nicht“, nuschelte sie, „aber bequem ist das Zeug ja schon. Das muss ich zugeben.“
„Nichts Anderes soll es sein“, antwortete Emelda, „außer vielleicht noch ein wenig Tarnung.“
„Wie kriegt ihr Elfen eigentlich eure Flügel da durch“, wollte Sinja noch wissen und zeigte dabei auf Emeldas Lederkleid.
Sinja hatte selbst schon einige Entwürfe für Kleider, Röcke und Shirts gemacht und interessierte sich daher für Modefragen.
„Das ist ziemlich einfach“, antwortete Emelda, „hier an den Rückenteilen sind Öffnungen vorgesehen. Das Rücken- und das Vorderteil sind mit Knöpfen oder Druckknöpfen verbunden, sodass du, wenn du die Knöpfe öffnest, praktisch das ganze Rückenteil abnehmen kannst. Du siehst die Knöpfe nicht, weil sie unter einem Überwurf versteckt sind. Siehst du, hier dieses Ding“, erklärte Emelda und hob gleichzeitig mit der rechten Hand das Lederstück an, unter dem die Knöpfe versteckt waren.
„Mit den Flügeln ist das dann kein Problem mehr“, sagte sie und schlug zum Beweis zweimal mit ihren Notenfähnchen.
In diesem Moment kamen die beiden anderen um die Ecke.
„Feeertig!“, sang Amandra.
„Wir sehen, die junge Dame ist auch soweit“, fügte Gamanziel fröhlich hinzu.
„Dann fehlen ja nur noch die Transportmittel“, sprach sie und flitzte noch einmal hinter den Felsvorsprung.
Sekunden später nahm Sinja einen Schimmer wahr, zunächst als ganz feinen Staub in der Luft, dann als Nebel und schließlich begann es dort, wo Gamanziel verschwunden war, silbern zu leuchten, als hätte jemand eine Schatztruhe geöffnet oder ein Licht angezündet. Was dann um die Ecke kam, das raubte Sinja für einen kurzen Moment den Atem.
Vor ihr stand der schönste Hengst, den sie jemals gesehen hatte, schaute ihr selbstbewusst in die Augen, blähte die Nüstern und schnaubte wie ein Wüstensturm. Er war schneeweiß von der Mähne bis zum Schweif, hatte stahlbaue leuchtende Augen und lange, schwarze Wimpern. Unter der Haut seiner Hinterbeine sah man Muskeln spielen, die erahnen ließen, welche Kraft dieses Pferd hatte. Aus seinen Schultern wuchsen zudem zwei kurze, weiße Flügel.
„Ich sehe, du bist beeindruckt“, stellte Gamanziel nüchtern fest.
„Das ist berechtigt. `Allegro´ ist das beste Pferdchen, das wir in der Kürze der Zeit für dich auftreiben konnten. Ich denke, ihr werdet euren Spaß miteinander haben.“
`Allegro´ schaute Gamanziel aus den Augenwinkeln an und drehte seinen Kopf beleidigt zur Seite. Offensichtlich war er mit der Bezeichnung `bestes Pferdchen´ keineswegs einverstanden. `Allegro´ war nämlich überzeugt davon, dass auch mit noch so viel Zeit und Suche nichts Besseres aufzutreiben gewesen wäre. Ohne falsche Bescheidenheit hielt er sich für das beste, schönste und schnellste Pferd, das jemals eine Stute zur Welt gebracht hatte.
„Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, dass wir zwei uns näher kennen lernen“, stellte Sinja fest und ging vorsichtig auf `Allegro´ zu.
Der Schimmel nickte, beugte sein rechtes Vorderbein und setzte das Knie direkt vor Sinja auf den Boden, nahm einen seiner Flügel und hob sie mit einer fließenden Bewegung sanft und schnell auf seinen Rücken.
„Uiiii, das ging ja flott“, dachte Sinja noch, da hatte `Allegro´ schon die Flügel ausgebreitet, wieherte einmal laut, schnaubte, wieherte ein zweites Mal.
Dann schoss er mit Sinja auf dem Rücken den Hügel hinunter ins Tal.
Nach wenigen Sekunden waren die zwei außer Sichtweite der Elfen.
„Ich kenne ihn jetzt schon so lange, aber ich staune immer wieder über ihn“, stellte Emelda fest.
„Lassen wir die zwei sich mal beschnuppern“, sagte Amandra.
„Ja, kommt Leute. Wir haben noch zu tun. Wir müssen packen und außerdem noch einen `Glissando' mit einer Botschaft zu `Seriosa´ schicken, dass wir Sinja haben und sie mitbringen.“
Ein `Glissando´ war ein kleiner, graubrauner Vogel, einem Spatzen sehr ähnlich, der von den Elfen in Dorémisien als Bote genutzt wurde. Die Vögel waren, wenn man ihnen genaue Anweisungen gab, äußerst zuverlässige Überbringer von Nachrichten.
Gamanziel ließ sich immer von einigen begleiten, wenn sie auf Reisen ging.
Das war zu beiderseitigem Nutzen. Die Tiere wurden gut behandelt und versorgt, während Gamanziel für den Fall der Fälle einen Botenvogel hatte.
Jetzt war es also wieder soweit. Ein `Glissando´ wurde mit einer Nachricht versehen und auf die lange Reise nach Fasolânda geschickt, um die Ankunft des Quartetts anzukündigen.
Bis dahin würde aber noch sehr viel Zeit vergehen.
4 Sinja und `Allegro´ - ein Ausflug
Währenddessen hatte Sinja ihre erste Reitstunde mit `Allegro´.
Sie hatte sehr schnell begriffen, dass der Schimmel genau wusste, was er tat.
Ihre einzige Aufgabe bestand darin, sich in seiner Mähne fest zu krallen um auf seinem breiten Rücken sitzen, oder besser liegen zu bleiben.
Damit war sie aber, zumindest am Anfang vollauf beschäftigt.
Mit dem Kennenlernen entwickelte sich Vertrauen und mit dem Vertrauen eine gewisse Gelassenheit. Sinja ließ geschehen, was geschehen sollte.
`Allegro´ glitt unter seiner Reiterin mit traumwandlerischer Sicherheit, halb galoppierend, halb schwebend, zunächst den Berg hinunter, dann in die weite Ebene. Er achtete auf Wurzeln, auf Schlingpflanzen auf giftige Stacheln und herunterhängende Äste und bewegte sich so durch alle Gefahren, dass Sinja sich schließlich geborgen fühlte. Es war wie ein aufregender Traum.
Sie flogen über kleine Bäche, auf schmalen Wegen durch die bunten Wälder, atmeten die warme, trockene Luft und als `Allegro´ zu einem besonders hohen Sprung ansetzte, hatte Sinja das Gefühl, die Wolken zu berühren und mit den Sonnen zu tanzen.
Sie musste dabei unwillkürlich an die Geschichte des griechischen Halbgottes Phaeton denken, die sie gerade gelesen hatte.
Der hatte im Übermut versucht, den Sonnenwagen seines Vaters Helios, des Sonnengottes zu lenken und war dabei vom Himmel gestürzt.
„Bloß nicht zu hoch fliegen“, dachte Sinja noch, als `Allegro´ schon wieder den Weg nach unten suchte.
„Mit dir zusammen kann mir nichts passieren“, sagte sie leise, als der Hengst in einen kurzen, geschmeidigen Trab verfiel.
Er hielt inne und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung der Anhöhe, von der sie gestartet waren. Sinja verstand sofort.
„Wir müssen zurück. Die drei fragen sich sicher schon, wo wir bleiben“, sprach Sinja aus, was `Allegro´ ihr mitteilen wollte.
Mittlerweile war der Sonnentanz, so hieß der Ablauf eines Tages in Dorémisien, schon weit über die Himmelsmitte hinaus und da Emelda, Amandra und Gamanziel von einer langen Reise gesprochen hatten, war es jetzt wohl Zeit für die Rückkehr.
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