Susanne und Horst begannen als Wohngemeinschaft, beide mit einem eigenen Zimmer. Nach wenigen Tagen sahen sie ein, dass getrennte Räume nicht viel Sinn machten, wenn sie Nacht für Nacht ihre Nähe suchten und zusammen in einem Bett schliefen. Sie richteten ein gemeinsames Schlafzimmer ein und ein Arbeitszimmer mit zwei Schreibtischen, ein Esszimmer und ein Wohnzimmer mit Couchecke, Bücherregal, Musikanlage und Fernsehgerät. Und sie teilten die Arbeiten auf: Horst kochte und spülte das Geschirr, sie kaufte ein, wusch und bügelte die Wäsche. Blieb noch das Putzen. Beide gehörten nicht zu den Menschen, die gerne schrubbten, wischten und saugten. Zu ihrem Glück konnten sie Elvira, die Putzhilfe der Großeltern, für diesen Job engagieren.
Ihr Leben in Sünde , wie ihre Oma es nannte und deswegen für sie um Vergebung betete, dauerte nur ein paar Monate. Sie und Horst waren von ihrer Liebe überzeugt, wollten eine Familie gründen. Nach der Hochzeit setzte sie die Pille ab. Ein Jahr später gebar sie einen Sohn. Wir könnten ihn Mysore nennen, hatte Horst vorgeschlagen. Sie hatte gelacht. Nein, Mysore klang ihr zu exotisch. Sie wollte einen Rufnamen, der keine lästigen Fragen herausforderte. Horst verstand ihr Argument. Sie entschieden sich für Florian und setzten Mysore an die zweite Stelle: Florian Mysore Edel.
Susanne du solltest jetzt aufstehen, ermahnte sie sich, blieb aber liegen, gefesselt von der Erinnerung an Horst. Sex mit Horst war grandios. Er war der erste Mann, der sie zum Schreien brachte. Was für Hände, muskulöse Pranken, die zupacken konnten, und zarte Fingerkuppen, die wie Seide über ihren Körper glitten.
Sie war süchtig nach seinen Händen. Ihre Schwäche nützte er schamlos aus, leistete sich Affären, im Kopf den Macho-Spruch: Die Eine habe ich sicher, dann sehe ich mich mal nach anderen um. Als sie ihn wegen seiner Untreue zur Rede stellte und fragte, was da ablaufe, wenn er angeblich Nachtdienst habe, reagierte er verstimmt und berührte sie zwei Wochen lang nicht. Das seien harmlose Liebeleien, behauptete er. Sie solle keinen Aufstand machen. Sein Herz gehöre nur ihr.
Sie verzieh ihm wieder und wieder. Dumm wie sie war, suchte sie eine Entschuldigung für seine Untreue, redete sich ein, dass es für einen Arzt vielleicht schwierig sei zu widerstehen, wenn Frauen sich an ihn heran- schmissen, ihn anhimmelten und sich untersuchen lassen wollten. Angehimmelt werden, das war es, wonach er gierte. Auch sie hatte ihn angeschwärmt, hatte versucht ihm alles recht zu machen, war auf jeden seiner Wünsche eingegangen. Aber mit den Jahren flaute ihre Bewunderung ab.
Über sein Kind mit Gabi, einer Krankenschwester mit vollem Busen und schmalen Hüften, die ihm bei seinen Operationen assistierte, wollte sie nicht hinweg sehen; es blieb nur die Scheidung. Wenn sie daran dachte, stieg noch heute Wut in ihr hoch: Dieser Scheißkerl! Er hat alles kaputt gemacht. Am liebsten hätte sie ihm seinen Namen zurückgegeben und wieder ihren Mädchennamen angenommen. Nur aus einem Grund tat sie das nicht: Sie wollte nicht anders heißen als ihr Sohn.
Mit viel Adrenalin in der Blutbahn rollte sie sich aus dem Bett, zog ihren Morgenmantel an und schlich in die Küche. Während sie das Frühstück für Florian und sich richtete, verflog ihr Zorn.
Florian hatte seine Mutter gehört und kam im Schlafanzug in die Küche geschlappt.
„Spielen wir heute Tennis?“
„Guten Morgen. Ja, Sabine und Lea kommen auch.“
Im Tennis-Club Schwarz-Weiß 1963 war Susanne seit ihrer Jugend Mitglied, Florian seit zwei Jahren. Noch vor ein paar Monaten, im Winter in der Halle, hatte sie im Spiel mit ihm die Oberhand behalten, doch in letzter Zeit verlor sie immer öfter, war der wuchtigen Spielweise des mittlerweile ein Meter neunzig großen und zweiundachtzig Kilogramm schweren Jünglings nicht gewachsen. Um das Spiel für ihn interessant zu halten, hatte sie schon mehrmals ihre Freundin Sabine zusammen mit deren siebzehnjähriger Tochter Lea zu einem Doppel eingeladen. Wenn Susanne mit Lea gegen Sabine und Florian antraten, war das Ergebnis offen und das Spiel spannend. Einmal spielten sie jung gegen alt; kein guter Einfall, wie sich schnell herausstellte, denn Lea und Florian fegten Susanne und Sabine mit sechs zu null und sechs zu eins vom Platz.
Lea war hübsch und Florian nicht blind für ihren hüpfenden Busen und ihren runden Po. Er verknallte sich in sie, erkannte aber schnell, dass er mit seinen Gefühlen für Lea nicht allein war; nahezu die Hälfte der männlichen Jugend des Städtchens rannte hinter ihr her. Oh Lea! Sie hatte er vor Augen, wenn ihn nachts sein Testosteron plagte.
Geduscht und umgezogen gingen sie ins Restaurant des Tennisclubs, das, wie meistens am Sonntag um die Mittagszeit, gut besetzt war, besetzt mit Susannes Bekannten, so schien es, denn Sie wurde von einigen gegrüßt, grüßte zurück, hielt hier und dort ein Schwätzchen und brauchte eine Weile, bis sie Sabine, Lea und Florian zu dem reservierten Tisch am Fenster folgen konnte. Zum Essen wählten alle den Salatteller mit gegrillten Putenstreifen, Florian zusätzlich eine Portion Pommes frites. Dass Lea von seinen Pommes nahm, machte ihn glücklich. Aber dieses Glücksgefühl hielt nur kurze Zeit an, nur solange, bis Sabine erzählte, dass Lea für ein Jahr in die USA, an eine High-School in Nashville, gehen werde.
Das sei fantastisch, sagte Susanne und gratulierte Lea. Das werde ihr Leben bereichern. Sie sei ja sehr sportlich, das käme dort gut an. Und dann quoll eine Frage nach der anderen aus Susanne heraus: Wann sie fliegen werde? Wo sie in Nashville wohnen werde? Ob sie ein Stipendium bekommen habe?
Ende August werde sie losdüsen, antwortete Lea. Ihr Vater habe für sie einen Direktflug von Zürich nach Washington D.C. gebucht. Er werde sie dort am Flughafen abholen und im Auto mit ihr zu ihrer Gastfamilie nach Nashville fahren. Ein Stipendium habe sie beantragt, sei aber auf nächstes Jahr vertröstet worden, weil ihr Antrag für dieses Jahr zu spät eingegangen sei. Erleichtert fügte sie hinzu: Papa werde alles bezahlen.
Wenn es um die Ausbildung seiner Tochter gehe, greife er tief in die Tasche, erläuterte Sabine.
Um auch über ihren Sprössling etwas Neues zu berichten, erzählte Susanne, dass Florian zusammen mit seinem Freund Max ein Verfahren zur Nutzung von Windenergie in kleinen Anlagen entwickele und diese Erfindung bei der Stiftung Jugend forscht einreichen wolle. Sabine und Lea nickten Florian bewundernd zu. Aber mehr kam nicht. Über seine Ideen und Erkenntnisse wollten sie nichts wissen.
Mit Technik kann man bei Frauen nicht punkten, lernte Florian. Vielleicht sollte ich ein Gedicht schreiben, grübelte er, oder einen Rap. Meinen Rap. Ja, die ersten Zeilen hatte er schon seit Wochen im Kopf:
Unterdrückt, unterdrückt,
langsam werd‘ ich wohl verrückt,
bin alles andere als entzückt.
Mehr war ihm noch nicht eingefallen.
Am Nachmittag besuchte Florian seinen Vater und dessen neue Familie, mit seiner Halbschwester Moni, die ganz vernarrt in ihren großen Bruder ist. Kaum sei er in der Tür, erzählte er, schleppe sie ihre Bilderbücher an und wolle, dass er sie zusammen mit ihr anschaue und ihr den Text vorlese. Sie sei eine Klette.
Gabi, die neue Frau seines Vaters, akzeptierte er immer noch nicht, obwohl die sich seit Jahren bemühte, ihn zu verwöhnen, seinen Lieblings-kuchen, zurzeit Himbeertorte, zu backen, auf seine Interessen einzugehen und bei einem Zwist seine Partei zu ergreifen.
Zu seinem Vater hatte er ein gutes Verhältnis, traf ihn auch jede Woche im Leichtathletikverein, wo er Speerwurf trainierte und Dr. med. Horst Edel, selbst ein guter Speerwerfer, die Jugendabteilung medizinisch betreute.
Einmal im Monat, wenn er sein Taschengeld bekam, hörte er von seinem Vater die Frage, wie es ihm in der Schule gehe, und gab immer die gleiche Antwort: Gut, keine Probleme. Er gehörte zu den Schülern, die im Unterricht aufpassten. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass er viel weniger zu Hause nacharbeiten müsse, also mehr Freizeit habe, wenn er sich in der Schule konzentriere. Ein guter Schüler war er nicht. Er interessierte sich für Mathematik, Physik, Chemie und Sport. In den anderen Fächern - den Muschi-Fächern, wie er sie nannte - arbeitete er nicht mehr als unbedingt nötig. Da konnte Susanne noch so viel reden.
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