Der Name Aristoteles war bis dahin im Abendland kaum bekannt, wenn doch, dann nicht beachtet. Der wohl bedeutendste Philosoph des Altertums war in Zeiten, in denen das Christentum im Römischen Reich Staatsreligion war, in Vergessenheit geraten.
Ein römischer Philosoph und Politiker, Anicius Boethius, der um die Mitte des Fünften Jahrhunderts n. Chr. lehrte, wagte es, Aristoteles und Platon zu lehren und für das Abendland zu erhalten. Er wurde 524 n. Chr. wegen Hochverrats hingerichtet. Auch dieser Versuch geriet in Vergessenheit.
Fünf Jahre später, 529 schloss Kaiser Justinian I. die einzige und verbliebene Philosophenschule im Römischen Reich. Die dort lehrenden Philosophen zogen nach Persien.
Nach der Eroberung Persiens durch die mohammedanischen Araber sammelten arabische Gelehrte die dort vorgefundenen aristotelischen Schriften und verbreiteten sie, unterstützt durch die Kalifen in Bagdad, im arabischen Raum. Mit größtem Interesse wurden sie auch in Spanien aufgenommen, wo die Araber in Cordoba ein eigenes Kalifat gegründet hatten. Von Cordoba aus verbreiteten sich die Schriften über Europa. Albertus Magnus setzte sich nicht nur mit diesen Schriften auseinander, sondern machte sich auch daran, gestützt auf die von den antiken Griechen erarbeiteten wissenschaftlichen Methoden der Naturbeobachtung, die Natur zu erforschen und zu beschreiben.
„Es genügt nicht, nur im Allgemeinen von den Dingen der Natur ein Wissen zu besitzen, sondern wir müssen jedes Naturding danach untersuchen, wie es sich in seiner eigentümlichen Natur verhält, die Ursache im Naturgeschehen ergründen.“ Dieser Satz lässt erkennen, dass es ihm nicht genügte, ein „Gottesgeschöpf“ vor sich zu haben. Er würde gerne wissen wollen, warum und wie es entstanden ist und wie es sich in seiner Umwelt verhält und zurechtkommt. Es waren schon die gleichen Fragen, die Charles Darwin zur Entdeckung der Evolution geführt haben. Bis zur Entdeckung sollte es noch 600 Jahre dauern, aber die Tatsache, dass diese Fragen überhaupt gestellt wurden, konnte die naturwissenschaftliche Forschung in Gang setzen. Einer der größten Gelehrten der allmächtigen Kirche hatte den Startschuss gegeben.
Über die Tierwelt hatte Albertus in seiner Jugend schon weitreichende Beobachtungen angestellt, die ihm jetzt zugutekamen. Um darüber hinaus in der Pflanzenwelt Erfahrungen zu sammeln, legte er im Dominikanerkloster in Köln für seine Beobachtungen einen Pflanzengarten an. Aber auch auf seinen Wanderungen beobachtete er die Natur am Weg genau. Den Dominikanern war durch Ordenssatzung auferlegt, alle Reisen zu Fuß zurückzulegen. Albertus Magnus ist in seinem Leben wohl mindestens die Strecke einer Erdumrundung gewandert; er war ständig zwischen Deutschland, Frankreich und Italien unterwegs. Hier ein Beispiel für seine Beobachtungsgabe bei der Betrachtung von Mispeln: „Aus gealterten Bäumen wächst oben aus den Ästen eine Pflanze, die auf jeder Baumart dieselbe Gestalt zeigt. Sie haftet sich dem Baume an, hat feste Blätter, die auch im Winter ihre Frische behalten, fast wie Olivenlaub, nur dass sie in der Farbe etwas zitronengelb erscheinen. Im Winter wachsen daran weiße Beeren. Die Struktur der Pflanze ist locker und knotig, wie beim Weinstock. Die innere Haut zwischen Rinde und Holz ist feucht und sehr klebrig. Darum verwenden sie die Vogelfänger als Vogelleim, mit dem sie Vögel fangen.“
Er machte sich auch über Ursache und Wirkung des Naturgeschehens Gedanken. Da er keinerlei naturwissenschaftliche Vorkenntnisse im heutigen Sinne besaß, muten diese Gedanken eigenartig an, sind aber als der Versuch, eine Pflanzen- und Tierkunde zu entwickeln, nicht hoch genug einzuschätzen. Er entwickelte die Theorie, dass es als Ursache für die Belebung der Pflanzen und ihre Formenvielfalt zusätzlich zu den bekannten „irdischen Elementen Feuer, Luft, Wasser, Erde“ ein fünftes Element geben müsse, eine „vita occulta“, deren Wirksamkeit man überall sehen könne. Er nannte sie „Äther“ und „Substanz der Gestirne“. Für die Tierwelt müsse das Gleiche gelten. Er traf die Unterscheidung in Vierfüßler, Zweifüßler, Fußlose, schwimmende und fliegende Tiere. Über die Biene wissen wir, dass er sie anatomisch untersucht hat.
Neben seinem Werk „Von Pferden, Hunden und Falken“ schrieb er ein „Buch der Tiere“ (de animalibus libri). In beiden Büchern stand die Beobachtung im Vordergrund. Über die ungeprüfte Übernahme von Dogmen konnte er sich erregen: „Solche Leute haben den Sokrates umgebracht und den Platon in die Verbannung geschickt.“
Dass die Kirche ihn trotz seiner naturwissenschaftlichen Schriften heiligsprach, hatte wohl folgenden Grund:
Albertus Magnus, glühender Christ, arbeitete die neuen Erkenntnisse über die griechischen Philosophen so in die kirchliche, bis dahin augustinisch dominierte Lehre ein, dass dies nicht als Verstoß gegen diese Lehre angesehen werden konnte, ja als Erneuerung und Gewinn erschien. Sein philosophisches Werk war umwerfend populär geworden, seine Reputation von solcher Größenordnung, dass es opportuner war, seine Schriften über die Natur nicht zu beachten, als ihn zur Rechenschaft zu ziehen.
Vierundzwanzig Jahre nach dem Tod von Albertus Magnus wurde im toskanischen Arezzo 1304 Francesco Petraca geboren, von den meisten als der Begründer des Humanismus und damit der Renaissance angesehen, wie man diese Zeit später bezeichnete. Er schuf Gedichte in toskanischer Sprache, die als Begründung des Petrarkismus galten, einer Dichtung mit metaphorischen Umschreibungen, mythologischen Hinweisen in einer platonischen Gedankenwelt, in der die Macht der Liebe im Mittelpunkt steht. Der Petrarkismus hat die abendländische Dichtung bis ins 18. Jahrhundert beeinflusst.
Seine für die Renaissance wohl bedeutsamste Tat jedoch ist die Wiederentdeckung und -belebung der Antike. Er wurde zum eifrigen Sammler antiker Schriften. Die Wiederentdeckung der antiken Dichter Vergil und Ovid ist auf seinen Namen zurückzuführen. Und: Er machte das klassische Latein des Altertums wieder populär. Dieses hatte sich bis zum 14. Jahrhundert zu einer Umgangssprache gewandelt, die mit dem klassischen Latein nicht mehr viel zu tun hatte. Petrarca schrieb Briefe und Abhandlungen in klassischem Latein. Er fand viele Nachahmer. Gehobene Kreise versuchten sich nun in klassischem Latein. Ein Lateinfieber griff um sich. Es führte dazu, dass Bürger, die etwas auf sich hielten, ihren Namen latinisierten.
Auf Kriegsfuß stand Petrarca mit den Naturwissenschaften. Das ist überraschend, war doch der Humanismus Auslöser einer Explosion auch des Wissens, nicht nur der Kunst. Es würden Männer kommen wie Leonardo da Vinci, Nikolaus Kopernikus und Andreas Vesalius. Männer, durch die eine neue Welt der Mechanik, der Sternkunde und Medizin geschaffen wurde. Petrarca konnte jedoch nicht ahnen, welche Lawine er lostreten würde, was sich in der Wissenschaft entwickeln würde, auch vieles, das seinen Intentionen völlig zuwider lief.
„Die Erforschung der Natur ist sinnlos, weil der Mensch in seiner naturgegebenen Begrenztheit Gottes Werk niemals durchschauen kann.“ Der dies sagte, war der florentinische Philosoph Colucci Salutati, ein Zeitgenosse Francesco Petrarcas. Der Satz spiegelt die Vorbehalte wieder, die frühe Humanisten noch gegenüber den Wissenschaftlern, besonders auch der Medizin hegten. Auch Petrarca gehörte zu den Verächtern der Medizin. Er bedachte Ärzte mit den übelsten Injurien, nannte sie „Dummköpfe“, „unverschämte Handwerker“, „lächerliche Zensoren“, „notorische Lügner“, „käufliche Denker“, „Söldner“. Ein Arzt wird beschimpft: „Nichts hindert Dich, wohne nur dort, wo Dich allmorgendlich ein Schwarm Dirnen besucht. Als Ritter kannst du dann, mit zusammengekniffenen weißen Lippen, die runzlige Stirn hochgezogen, unter Seufzern überprüfen, was jemand uriniert hat und schließlich kopfwiegend das Urteil fällen: Jene stirbt, diese wird gesund.“
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