Als Vanessa das Luftschiff entdeckte, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen. Es schwebte neben dem Balkon, sodass der riesige Auftriebkörper über das Kuppeldach des Palastes ragte. Der verrückte Wimille Swift stand am Steuer. Da wurde sie auch schon von zwei monströsen Gestalten an den Armen gepackt und an Bord gezogen. Sie erkannte die irre Hexe mit dem zersplitterten Gesicht und einen riesigen Schrat, ganz ähnlich den Kerlen, die Ernie und der Achte in die Schwarzen Schlächter hatten verwandeln lassen.
»Tom!«, rief sie entsetzt.
Im Nu war er an ihrer Seite und stellte ihr die beiden als Brokaris und Morga vor. Die Hexe grunzte nur abfällig und wandte sich ab, während der Schrat sie, so schien es ihr, zornig anstarrte. Sie mochte ihn jetzt schon nicht. Mit was für Typen ließ sich Tom denn da nur ein? Das war ja schon fast so schlimm wie bei Ernie. Waren denn alle verrückt geworden?
Zuletzt kam Dimm an Bord geklettert.
Morga knurrte und sprang ihn an. »Hat man dich immer noch nicht erschlagen, Opa?«, brüllte er den armen Mann an und packte ihn am Revers.
Vanessa ergriff Morgas Arme. »Lass ihn runter! Er ist mein Freund; er hat mich vor Ernie und den anderen Irren beschützt!«, schrie sie den riesigen Schrat an. Egal, wie groß er war, egal wie stark – sie hatte keine Angst mehr. Mit ihren Fäusten hämmerte sie auf Morga ein.
Freilich beeindruckte den das nicht im Geringsten, doch immerhin vergewisserte er sich bei Tom, was er tun solle. Auf Toms Nicken hin ließ der Schrat den Alten fallen wie einen Sack Kartoffeln, und Vanessa umarmte Dimm sofort schützend.
»Lass ihn bloß in Ruhe!«, herrschte sie Morga an.
Der grunzte nur abfällig und zog von dannen.
»Vanessa, wo ist Ernie«, fragte Tom finster.
Sie erkannte, dass er mit ihrem Ex-Lover noch eine Rechnung begleichen wollte.
»Er hat die Stadt vor vier Tagen verlassen, zusammen mit seiner Todesbrigade. Sie marschieren in Richtung Kishon, das liegt im Norden, jenseits der Wüste Nagmar«, beeilte sich Dimm zu antworten.
Ein gewaltiger Knall ließ sie alle zusammenfahren, ein Donnern und Grummeln wie bei einem Gewitter. Wind kam auf, erfasste das Luftschiff und trieb es vom Palast fort. Wimille kurbelte am Steuerrad und brachte das Luftschiff auf einen neuen Kurs. Im Norden stieg eine gewaltige schwarze Wolke in die Luft, glühende Trümmer regneten vom Himmel.
»Das war das Kraftwerk«, bemerkte Wimille überflüssigerweise. »Während die Arbeiten an der Allianz der Verlorenen so richtig in Fahrt kamen, habe ich die Anlage sabotiert und mithilfe des fünften Wasserstofftanks in eine hochexplosive Bombe verwandelt. Wenn die Schwarze Horde hierher zurückkehrt, werden sie nur noch einen tiefen Krater vorfinden«, erklärte er, als wäre dies das Normalste der Welt, doch dann seufzte er. »Leider bedeutet es auch, dass wir nicht heimkehren können. Die Explosion hat zweifelsohne ebenso den Durchgangs-Apparat der Zaltianna Trading Company zerstört. Selbst wenn nicht – er kann ohne Energiequelle nicht betrieben werden.«
Vanessa stierte Wimille entgeistert an. Sollte das heißen, sie saßen hier in Elderwelt fest? Für immer?
»Es gibt noch andere Durchgänge nach Fernwelt«, rief Dimm. »Man sagt, dass es in Kadingira ein Illauri-Tor gibt.«
Tom schien kurz darüber nachzudenken. Seine Entscheidung fällte er ziemlich rasch. »Mag sein. Das schauen wir uns später an. Jetzt nehmen wir erst einmal Kurs auf Kishon. Wir müssen Ernie aufhalten. Das hat Vorrang.«
»Nein«, widersprach eine resolute Frauenstimme.
Li Su, die chinesische Heilerin, kam aus dem Unterdeck herauf. Vanessa war erleichtert, sie hier zu sehen. Das bedeutete, dass sich Tom nicht nur mit Verrückten und Monstern umgab.
»Wir haben über zweihundert Unschuldige im Bauch dieses Schiffes. Wir müssen sie zuerst in Sicherheit bringen. Nach der Vernichtung ihres Kraftwerks werden die in Seramak verbliebenen Reste der Schwarzen Horde Reißaus nehmen und versuchen, ihren Mordkommandanten einzuholen. Die Horde wird versuchen, die Allianz der Verlorenen zu erobern oder sie zu zerstören, um jeden Preis. Von Seramak aus werden sich die Nachrichten in Windeseile überall in Neoperseuon verbreiten. Dieses Schiff und seine Besatzung sind heute zum Symbol des Widerstandes geworden, ein Leuchtfeuer in der Dunkelheit für die Kämpfer des Guten, und damit Angriffsziel Nummer eins für alle Anhänger des Dunklen Meisters. Für uns gibt es keine Sicherheit mehr, solange wir uns im Gebiet der Schwarzen Horde aufhalten«, erläuterte sie und presste die Lippen zusammen.
In Vanessas Ohren klang sie wie die Befehlshaberin eines Heeres, nicht wie die sanftmütige Heilerin, als die sie Li Su kannte. Tom schnaubte wütend und ballte die Fäuste. Es war offensichtlich, dass er Ernie jagen und zur Strecke bringen wollte. Jetzt sofort.
»Kadingira ist die Hauptstadt Neoperseuons. Dort liegt das Hauptquartier der Armee des Großkönigs. Wenn wir ihm dieses Wunderschiff zur Verfügung stellen, wird es seinen Truppen einen unvergleichlichen Vorteil gegenüber der Horde verschaffen«, schlug Dimm vor. Er lächelte scheu und spreizte die Hände zum Zeichen, dass er nichts Böses im Schilde führte. »Ihr könnt mir vertrauen. Ich war Zeremonienmeister des Fürsten von Seramak, und Aracha war ein Verwandter von Großkönig Kurasch dem Neunzehnten. Kadingira ist das beste Ziel, das wir im Moment ansteuern können, um diese armen Leute in Sicherheit zu bringen und der Schwarzen Horde zu schaden. Außerdem könnt ihr, die ihr aus Fernwelt gekommen seid, von dort nach Hause gelangen.« Er streckte den Rücken durch und richtete seinen Kaftan.
Vanessa schaute von einem zum anderen. Tom atmete tief durch, gab er nach? Li Su und Dimm flehten ihn mit ihren Blicken förmlich an. Wimille, Brokaris und Morga schienen zu dem Thema keine Meinung zu haben. Vanessa wusste auch nicht so recht, was das Beste war, aber Kadingira hörte sich doch ganz gut an. Sie nickte Tom aufmunternd zu.
»Dann auf nach Kadingira«, seufzte Tom. »Wo liegt das?«
Li Su deutete mit dem Arm dorthin. »Immer nach Süden, hinter der Wüste von Ergian, vorbei am gleichnamigen Gebirge, und dann folgen wir dem Lauf der Zwillingsflüsse nach Osten«, erklärte sie.
Toms Blick folgte ihrer Geste, als läge all das bereits in Sichtweite. »Okay, dann machen wir es so. Ernie kann warten, den finden wir schon wieder. Wir haben immerhin ein Luftschiff! Li Su, zeige Wimille den Kurs«, entschied er.
Die Heilerin verbeugte sich gehorsam und stieg zu Wimille auf die Kajüte. Dimm zog sich ins Unterdeck zurück, wohin ihm Vanessa zögernd folgte. Ohne den alten Mann fühlte sie sich mit Morga und Brokaris unwohl an Deck, und Tom … Der war ihr so fremd in dieser unbekannten Welt.
Der kleine Palastbeamte wurde von etlichen der Gefangenen erfreut begrüßt. »Ihr werdet von Seramak fort und in Sicherheit gebracht«, erklärte er den Leuten.
Erleichterte Seufzer, sogar Schluchzer waren zu hören, Lachen und Weinen. Vanessa wurde warm ums Herz. Sie blickte die Stiege hinauf zu Tom, der eben zum Bugspriet des Luftschiffs trat, mit verschränkten Armen der ungewissen Zukunft entgegenblickend. Jetzt kam er ihr wie ein Anführer vor, genau wie Ernie, aber doch ganz anders. Während der eine lieber Mord und Totschlag beging, versuchte der andere, die Unschuldigen zu retten.
Seltsam, dass ich diesen Zug bei Tom vorher nie wahrgenommen habe , wunderte sie sich . Musste ich dafür wirklich erst durch die Hölle gehen, damit es mir auffällt? Vanny, du bist also doch eine blöde Kuh – genau wie Tom immer gesagt hat.
Die Sonne versank hinter dem Dünenmeer der Wüste von Ergian und kündigte eine schwarze Nacht an, so schwarz wie die Gedanken Ernie Frauds. Ness, ich werde dich umbringen. Eigenhändig! Und es wird mir eine Freude sein.
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