Sie sah auf, als sie ihn kommen hörte. »Die Lage hat sich sehr gebessert. Es sind nur noch halb so viele Kranke. Da die Hälfte der Gefangenen einige Tage gut versorgt wurde, bekamen die Übrigen mehr von den Rationen ab. Die Schrate haben vergessen, sie zu reduzieren«, erklärte sie mit einem zufriedenen Lächeln.
Tom erwiderte es freundlich. Es tat gut zu sehen, wie selbst diese geringen Fortschritte der Heilerin neue Hoffnung gaben und sie strahlen ließen.
»Morgen ist es so weit«, versprach er ihr.
Die Nachricht wischte Li Sus Fröhlichkeit fort. »Wir müssen die Leute beschützen, Tom«, mahnte sie.
»Das werden wir«, versicherte er ihr.
Mit einem bedrückten Lächeln nahm Li Su es zur Kenntnis. Er wartete noch einen Moment, aber als sie nichts sagte, ging er weiter und suchte Brokaris. Er fand die Hexe in der untersten Kammer, wo sie vor dem Ofen auf dem Boden saß und zu meditieren schien. Auch sie ließ er die Neuigkeiten wissen.
Brokaris drehte sich nicht zu ihm um, als sie sagte: »Du hast mir deine Gedanken versprochen, deine Erinnerungen an die Ermordung von Eternis, meiner Königin.«
Tom schluckte. »Und du wirst sie erhalten.«
»Gut«, meinte Brokaris kalt. »Danach werde ich dich töten.«
Tom sparte es sich, etwas darauf zu erwidern. Er nahm sich allerdings vor, sich dagegen zu wappnen.
Ein furchtbarer Knall weckte alle im Kerker. Schlagartig saß Tom aufrecht, spürte wie der Boden und die Wände erzitterten. Eine Explosion wie Kanonendonner. Ganz in der Nähe war etwas in die Luft geflogen. Seine Mitgefangenen wirkten ratlos und verängstigt. Was mochte das jetzt zu bedeuten haben?
Außerhalb des Kerkergitters wurde ein Tumult laut. Männer schrien wütende Befehle, gleich vier schwer bewaffnete Wächter der Schwarzen Horde tauchten vor dem Gitter auf, Lanzen und Speere in den Händen. Sie stocherten durch die Eisenstäbe und drohten damit, jeden umzubringen, der zu nahe käme.
»Was ist passiert? Warum sind die Wachen in Panik?«, fragte Brokaris und wirkte so ratlos, wie Tom sich fühlte.
Li Su wusste ein paar Antworten. »So reagieren die immer, wenn die Horde angegriffen wird. In ihrem Wahn nehmen sie an, wir hier unten würden mit den Angreifern gemeinsame Sache machen. Vermutlich hängt es mit dieser Explosion zusammen«, sagte die Heilerin so gelassen, als wäre das nichts weiter als gewöhnlicher Alltag.
»Was passiert jetzt?«, fragte Tom neugierig. Er hatte da so eine Ahnung, was oder wer für die Explosion verantwortlich sein könnte – und er wusste auch genau, was da eben in die Luft geflogen war.
»Der Kommandant wird nun alle seine Truppen zusammenrufen und zum Ort des Geschehens eilen«, sagte Li Su.
»Das heißt, der Palast wird ziemlich leer sein abgesehen von der Wachmannschaft?«, hakte Tom nach. Er spürte Aufregung in sich hochsteigen wie Blubberblasen.
Li Su bestätigte das. Ja! Das war es.
Ohne ein weiteres Wort warf er sich herum und eilte hinunter in das tiefste Gewölbe des Kerkers. Brokaris und Li Su hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten.
»Was soll das werden, Tom Packard? Willst du dich feige verkriechen?«, fauchte die Hexe.
»Nein, das ist das Zeichen! Wir brechen aus. Li Su, Brokaris, schafft alle Gefangenen hinauf in die Hauptkammer. Wir müssen so schnell wie möglich alle nach oben schaffen«, rief er den beiden Frauen zu.
Li Su schien zu verstehen, nahm Brokaris an der Schulter und bog mit ihr in das zweite Gewölbe ab. Tom stürmte die Rampe hinunter ins dritte Geschoss. Als sie ihn so entschlossen heranrennen sahen, seinen finsteren Gesichtsausdruck, da schienen die einzigen Anwesenden – der gefesselte Morga und die beiden mordbrennenden Heizer – genau zu wissen, was ihnen bevorstand.
»Ein Aufstand, ein Aufstand!«, brüllte einer beiden Vermummten. Mit seiner Schaufel ging er auf Tom los.
Der ließ sich fallen, grätschte dem Mistkerl zwischen die Beine und holte ihn von den Füßen. Zack, zack, zack . Drei heftige Schläge ins Gesicht, und der Heizer blieb regungslos liegen. Sein Kamerad kam angestürmt, schwang seine Schaufel zum Hieb.
»Professor!«, rief Tom und streckte die Hand aus. Sofort materialisierte sich das Zauberschwert in seiner Hand. Die in die lange, schmale Klinge eingearbeiteten Juwelen leuchteten blau. Wie von allein parierte es den Schaufelangriff, hieb das Mordwerkzeug des Heizers entzwei. Tom sprang auf, stach zu und durchbohrte die Brust des dick gepanzerten Mannes. Der Heizer keuchte, dann brach er zusammen. Morga lachte nur brüllend. Tom sprang zu ihm hinüber. Mit einem einzigen Schlag des Daring-Schwerts zersprangen die Ketten, die den riesigen Schrat an die Wand fesselten. Morga sackte zunächst zusammen, dann spannte er alle Muskeln an.
Tom richtete die Waffe auf ihn. »Hilf uns oder stirb«, fuhr er den Schrat an.
Morga bleckte die Zähne, und ein tiefes Grollen verließ seine Brust. Tom brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es ein Lachen war.
»Jetzt wird gemordet!«, verkündete Morga.
Bevor Tom zweimal blinzeln konnte, war der Schrat auf den Beinen, stürmte an ihm vorbei, hinauf in die Hauptkammer. Tom pustete erleichtert aus. Einen Moment lang hatte er geglaubt, der irre Morga würde sich auf ihn stürzen. Schnell folgte er ihm. Es war besser, diesen Schrat nicht zu lange aus den Augen zu lassen.
Dicht hinter Morga boxte und rempelte er sich durch die Menge der Mitgefangenen, die aus der zweiten Kammer nach oben drängten.
»Macht Platz, macht Platz«, schrie Tom und hob sein leuchtendes Schwert. Die Menschen wichen keuchend und schreiend zur Seite, wohl aber mehr wegen des riesenhaften Muskelberges mit seinem wilden Monstergesicht als wegen Toms Warnung. Schon waren sie oben und näherten sich dem Gitter.
»Zurück, zurück, zurück!«, brüllten die schwarz uniformierten Wächter am Tor, zielten mit ihren Lanzen nach Tom und Morga. »Wir stechen euch ab wie Schweine, wenn ihr zu nahe kommt!«
»Na, das wollen wir mal sehen«, entgegnete Tom und richtete das Simanui-Schwert auf das Gitter.
Eine Druckwelle löste sich aus der Klinge, sprengte das Eisen aus seiner Verankerung und schleuderte es mit mörderischer Wucht zu Boden, zusammen mit den vier Wachen. Morga lachte begeistert, dann stürmte er vor.
Über die Treppe kamen weitere Wächter der Schwarzen Horde heruntergeeilt. Mit einem Schlag, mächtiger, als Tom je zuvor gesehen hatte, schmetterte Morga den ersten Wächter gegen die Felswand. Regungslos blieb der Kerl liegen. Der zweite Wächter hatte nicht viel mehr Glück. Er hob noch sein Schwert zum Schlag, aber schon war Morga über ihm. Mit einer einzigen, blitzartigen Bewegung hatte er dem Mann das Genick gebrochen, entwand ihm das Schwert und rammte es durch die Brust des dritten Wächters. Ein schauriges, brüllendes Lachen entfuhr dem wahnsinnig gewordenen Schrat, als er sich vorwärts kämpfte. Noch immer den Toten in seinen Pranken stürmte er die Treppe hinauf, schleuderte die Leiche auf einen vierten Wächter und sprang zugleich einen fünften, diesmal einen Schratgenossen, an. Tom konnte den Schrecken in dessen Augen erkennen, als Morga über ihn kam. Er packte den Kopf des Schrats und zerschlug ihn wie ein rohes Ei an der Felswand.
Hinter Morga kämpfte sich der vierte Wächter fluchend auf die Füße, wandte sich herum und griff an. Ein Fehler, ein ganz großer Fehler. Blitzschnell wirbelte der riesige Schrat herum, packte den Wächter, stemmte ihn brüllend in die Luft und schmetterte ihn zu Boden. Dann nahm er dessen Schwert und trieb es ihm bis zum Heft durch die Brust, nagelte ihn am Boden regelrecht fest.
»Jetzt seid ihr die Schweine«, grunzte Morga. Er richtete sich auf und klatschte in seine blutigen Hände. »Der Weg ist frei.«
Tom gab Li Su das Zeichen, alle Gefangenen hinauf in die Haupthalle zu führen. Er selbst lief vorweg, gefolgt von Brokaris. Beide versuchten sie, Morga einzuholen, der bereits nach oben stürmte. Zu dritt erreichten sie in die Haupthalle.
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