„Was meinst du? Wer ist sympathisch?“, fragte Karla.
„Dieser Inspektor Thomson.“
Karla nickte. „Außerdem ist er äußerst tüchtig und sehr intelligent, sagt Sven.“
„Du magst den Kommissar sehr, nicht wahr?“
„Ja. Er war Freds bester Freund und wir drei verlebten manch netten Abend miteinander“, erwiderte Karla leise und Trauer verdüsterte ihr Gesicht. „Seit Freds schrecklichem Tod ist Sven mir eine große Stütze. Es ist reine Freundschaft, doch wer weiß, vielleicht eines Tages ...“ Sie verstummte.
„Es tut mir so leid. So unendlich leid“, flüsterte Julia und streichelte Karlas Hand.
„Ich weiß, Kleines. Aber irgendwann komme ich darüber hinweg. Der Mensch ist unglaublich leidensfähig. Das erlebe ich tagtäglich in meiner Praxis.“
„Wenn ich dir doch nur helfen könnte“, flüsterte Julia mit Tränen in den Augen. „Ich wünschte mir die Zeit zurückdrehen zu können, so wie in den Science-Fiction-Filmen. Dann ließe sich vieles ungeschehen machen.“
„Das wäre nur bedingt von Vorteil, Liebes. Denn das Schicksal massiv zu manipulieren hieße doch, den gesamten Zeitablauf durcheinander zu bringen, was wohl in einer Katastrophe enden würde. Es mag sich nach einer Plattitüde anhören und doch ist es wahr: Wir müssen das Leben so nehmen wie es kommt und versuchen, das Beste daraus zu machen“, sagte Karla. „Obwohl es für manche Menschen von der Schwere und Aussichtslosigkeit her vielfach unerträglich erscheinen mag“, fügte sie nachdenklich hinzu, wobei sie an ihren Patienten Benjamin Porella denken musste, der an der Brutalität seiner Umwelt zerbrochen war.
Julia wollte etwas sagen, doch das Erscheinen des Obers hinderte sie daran. Daher wünschte sie Karla nur guten Appetit und beugte sich hungrig über ihren Teller. Doch obwohl die Lammkoteletts ausgesprochen delikat aussahen, zog sich ihr Magen protestierend zusammen. Schlagartig verging ihr der Appetit. Sie wurde blass, und eine Welle der Übelkeit überschwemmte sie wie eine Woge. Hastig schob sie ihren Teller beiseite und lehnte sich zurück.
„Was ist los?“, fragte Karla besorgt.
„Mein Magen“, flüsterte Julia. „In letzter Zeit kann ich den Geruch von Fleisch einfach nicht ertragen. Ich versuche es mit dem Salat.“
„Du darfst diese Beschwerden nicht auf die leichte Schulter nehmen“, warnte Karla. „Vielleicht hast du eine Magenschleimhautentzündung oder gar ein Magengeschwür. Ich melde dich morgen Vormittag bei Dr. Fergusen an. Keine Widerrede bitte“, sagte Karla so energisch, dass Julia den ihr auf der Zunge liegenden Protest hinunterschluckte.
„Reg dich nicht unnötig auf, ich gehe ja hin“, stimmte sie dem Arztbesuch zu. Sie stocherte lustlos in ihrem Salat herum, spießte eine dunkelblaue Olive auf ihre Gabel, steckte sie in den Mund, schluckte sie mit angewidertem Gesichtsausdruck hinunter und gab endgültig auf. Sie trank ihr Mineralwasser auf einen Zug aus und begann in ihrer Handtasche herumzukramen.
Karla starrte geradezu entsetzt auf das weinrote Zigarettenetui, aus dem sich Julia eine Zigarette nahm und mit einem goldenen Feuerzeug anzündete. „Das darf doch nicht wahr sein“, sagte sie. „Du warst doch immer eine erklärte Gegnerin der Zigarettenindustrie. Ich fasse es nicht!“
„Ach, Karla! Nun mach doch kein Drama daraus. Ab und zu eine Zigarette kann doch nicht schaden“, sagte Julia ärgerlich.
„Eine?! Du hast dir gerade eine Zweite angezündet, obwohl die Erste noch im Aschenbecher verglüht und das bei deinen gesundheitlichen Problemen. Was ist bloß mit dir los?“, klagte Karla.
„Außer meinem Magen bin ich vollkommen okay, ergo werden mich die paar Zigaretten nicht gleich ins Grab bringen. Sollte mir Dr. Fergusen jedoch raten das Rauchen wieder einzustellen, bin ich jederzeit dazu bereit. Aber im Augenblick möchte ich ganz einfach hier sitzen, diese Zigarette zu Ende rauchen und möglichst keine Vorwürfe hören“, sagte Julia trotzig.
Karla gab sich geschlagen. Diese trotzige Seite ihrer Schwester kannte sie von Kindheit an. Wenn sie nicht einlenkte, zog sich Julia in ihr ganz persönliches Schneckenhaus zurückzog, aus dem sie äußerst schwer wieder herauszulocken war. Also ließ Karla fürs Erste die Sache auf sich beruhen. „Fährst du von hier aus zurück zur Galerie?“, fragte sie neutralen Boden anstrebend.
„Nein, nicht sofort. Zuerst besuche ich noch eine meiner Künstlerinnen in ihrem Atelier. Aber danach bin ich wieder in der Galerie.“
„Mir fällt auf, dass du dich in letzter Zeit verstärkt um Künstlerinnen bemühst. Hat das einen besonderen Grund?“, wollte Karla wissen.
„Nein, eigentlich nicht. Ich komme mit Frauen einfach besser zurecht. Die Herren Künstler werden immer exzentrischer, immer anspruchsvoller und enorm anstrengend. Außerdem haben es Künstlerinnen eindeutig schwerer, obwohl meiner Überzeugung nach gerade bei ihnen die kreative Seite besonders stark ausgeprägt ist.
Sie sind sensibler und diese Sensibilität fließt ungehemmt in ihre Schöpfungen, sowohl bei Gemälden, als auch bei Skulpturen und bringt so manche anrührende und eindringliche Arbeit hervor“, schwärmte Julia mit leuchtenden Augen. „Ach, dabei fällt mir etwas ein! Am achtzehnten August findet in einer Pöseldorfer Galerie eine Vernissage mit internationalem Publikum statt. Hast du Zeit?“
Karla ging in Gedanken ihren Terminkalender durch, dann nickte sie zustimmend.
„Fein“, freute sich Julia. „Hoffentlich sind die Bilder gut.“
„Ich muss jetzt leider los“, bedauerte Karla und erhob sich. „Heute bist du mit Zahlen dran. Deshalb hat mir das Essen wohl auch so gut geschmeckt“, neckte sie und umarmte ihre Schwester liebevoll. „Vergiss nicht deinen Termin bei Dr. Fergusen. Ich melde dich für elf Uhr an.“
Julia nickte lächelnd und streichelte Karlas Wange.
Auf ihrer Fahrt zur Klinik musste Karla die ganze Zeit an Julia denken. Sie war lange nicht so fröhlich und unbefangen wie sonst. Irgendwie hatte sich Julia verändert. Oder reagierte sie aus Sorge um ihre Schwester übertrieben? Wurde Julia einfach nur reifer? Vielleicht trübte ihr Beruf ihren Blick, sodass sie hinter der kleinsten Veränderung psychische Gefahren lauern sah. „Das muss ich mir aber abgewöhnen“, dachte sie laut und gab Gas.
Sie erreichte die Klinik pünktlich und stellte ihren Golf auf dem Parkplatz für das Klinikpersonal ab. Sie freute sich auf die Begegnung mit Benjamin Porella, den sie unter intensiver Ausschöpfung ihrer Beziehungen in dieser besonders guten Anstalt unterbringen konnte. Benjamin Porella vertraute ausschließlich ihr.
Obwohl er den Ärzten und Schwestern der Klinik gegenüber höflich und freundlich war, verschloss er sein Innerstes vor ihnen so fest wie eine Auster. Nur Karla gegenüber taute er auf. Alleine ihr gestattete er Einblick in seine Gefühle, Hoffnungen und Ängste. Aus diesem Grund widmete sie dem sanften Mann, den die Herzlosigkeit seiner Mitmenschen zum vielfachen Mörder werden ließ, auch noch einen Teil ihrer Freizeit.
Zehn Minuten später stand sie Benjamin Porella gegenüber, einem hochgewachsenen, schlaksigen, vierundzwanzigjährigen jungen Mann, den alle Benny nannten. Seine braunen durch die Basedowsche Krankheit entstellten Augen strahlten sie an. Und genau diese entstellten Augen, von bösen Zungen auch Froschaugen genannt, waren Schuld an Bennys Unglück.
Benny kam lächelnd auf Karla zu und reichte ihr die Hand. „Wie schön, dass Sie gekommen sind“, sagte er sanft.
Karla erwiderte seinen Händedruck und sah ihn voller Sympathie an. Und ebenso wie vor fünf Jahren, als sie ihn zum ersten Mal sah, vermochte sie noch immer kaum zu glauben, dass dieser stets freundliche und liebenswürdige junge Mann zehn Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Und der Grundstein für die tragischen Ereignisse, war in Bennys frühester Jugend gelegt worden.
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