Sie bedankten sich und fuhren zurück ins Büro. Hier fassten sie noch einmal die Fakten zusammen. Doch sie drehten sich im Kreis. Theorien wurden erdacht und wieder verworfen. Zu einer verwertbaren Spur führten ihre Überlegungen nicht. Vielleicht würde der Bericht des Gerichtsmediziners einen Hinweis auf den Täter bringen. Oder die Spurensicherung fand einen Fingerabdruck, eine Gewebefaser oder irgendein Indiz, hofften sie.
„Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt“, murmelte Kommissar Sörensen, als er am nächsten Morgen den Bericht des Gerichtsmediziners las.
„Was nicht gibt?“, fragte Phil, der den Bericht der Spurensicherung vor sich liegen hatte.
„Hier steht, Paul Kowalski hatte sich einer Operation unterzogen, die seine Potenz wiederherstellte. Falls ich Bornholms Ausführungen richtig verstehe, hat man in Kowalskis Glied eine Art Mechanik implantiert, durch die er seine Erektionsfähigkeit zurückerhielt. Außerdem wurde sein Penis um etwa vier Zentimeter verlängert. Als zusätzliche Erklärung schreibt der Doktor etwas über „mit der Hand pumpen“. Bedeutet das etwa, für den Kerl war jederzeit eine Erektion möglich?“, fragte Sven.
„Genauso ist es“, bestätigte Phil ganz selbstverständlich. „Mit Hilfe des Pumpens kommt es zwar zu einer Erektion, jedoch nicht zwangsläufig zu einer Ejakulation.“
„Woher weißt du das denn?“, fragte Sven verblüfft.
„Ich las darüber in einer Zeitschrift.“
„Du sagst das so gelassen. Aber derartige Manipulationen sind doch schrecklich.“
„Wieso denn das? Was soll daran schrecklich sein, einem impotenten Mann seine Erektionsfähigkeit zurückzugeben?“, fragte Phil verblüfft.
„Aber so ein Mann kann immer! Und wenn ...“
„Welcher Mann will denn schon immer ?“, unterbrach ihn sein Freund.
„Na, du bist gut! Wenn ich an einen so brutalen und abartig veranlagten Mann wie Paul Kowalski denke, dann fallen mir zu diesem Thema schon einige schreckliche Dinge ein, die er auf Grund seiner künstlich hochgeputschten Potenz verstärkt auszuleben vermochte.“
„Mein Gott, Sven! Von diesem Standpunkt aus habe ich dieses Thema noch nie betrachtet. Ich sah bisher nur die Vorteile für einen normal veranlagten Mann, der auf diese Weise wieder Geschlechtsverkehr haben kann und nicht mehr von den sexuellen Freuden des Lebens ausgeschlossen ist. Aber du hast recht! Bei einem Sadisten kann die künstlich geschaffene, permanente Erektionsfähigkeit katastrophale Auswirkungen haben“, entgegnete Phil schockiert.
„Was meinst du Phil, könnte diese ungewöhnliche Manipulation etwas mit den Morden zu tun haben?“
„Das glaube ich nicht. Sadisten finden auch ohne diese Fähigkeit Mittel und Wege eine Frau bis zum Wahnsinn zu quälen. Dafür gibt es doch leider Gottes genügend einschlägige Beweise und Berge von Polizeiakten.“
„Also wieder nichts“, sagte Sven niedergeschlagen. „Wir haben zwei männliche Leichen, denn das Mädchen wurde ja von Paul Kowalski getötet wie wir wissen, aber keinen einzigen Hinweis auf einen möglichen Täter; und im Moment sieht es auch nicht danach aus, als bekämen wir jemals einen. Es gibt keine Zeugen und nicht eine einzige Spur.
Wir haben nichts! Absolut nichts! Falls der Täter nicht irgendeinen entscheidenden Fehler macht entkommt er uns, so traurig sich das auch anhört. Falls er sich jetzt zurückzieht und mit dem Töten aufhört, fassen wir ihn nie!“
Der Inspektor enthielt sich einer Antwort. Was hätte er auch sagen sollen. Sein Partner hatte die Situation klar erkannt und dem war nichts hinzuzufügen.
„Ich musste es tun“, flüsterte der Mörder in die Stille des Raumes. „Er hat seine Strafe verdient. Irgendjemand musste diese Bestie stoppen. Ich danke Gott dafür, dass er mich zum Rächer auserwählte, denn ich war es ihr schuldig.“
„ War es auch Gottes Wille, dass du einem Unschuldigen sein Leben nahmst?“ , meldete sich die kleine, erbarmungslose Stimme seines Gewissens. „D u versuchst mich zwar ständig zu verdrängen, aber das wird dir nicht gelingen!“
NICHT GELINGEN! NICHT GELINGEN!
Wie ein Hornissenschwarm schwirrten die Worte durch seinen fast zerspringenden Schädel. GE...LIN...GEN! GE... „Nicht! Hör endlich auf!“, schrie der Mörder und hielt sich seinen dröhnenden Kopf. „Ich will endlich meine Ruhe“, flüsterte er zitternd. „Nur ein wenig Ruhe.“
Sechs Wochen waren seit Paul Kowalskis Tod vergangen. Langsam, Schritt für Schritt, hatte er zur Normalität zurückgefunden. Durch sein geschicktes Taktieren hatte niemand aus seiner Umgebung etwas bemerkt. Nicht der Schatten eines Verdachts war auf ihn gefallen.
Er hatte ihr helfen können einen Teil ihres inneren Grabens zuzuschütten und die beiden losen Enden ihres Lebensweges, der sich spaltete, als das Schicksal sie traf, wieder notdürftig zusammenzufügen. Noch war nicht alles vollbracht, aber die Zeit würde ihr helfen, das entsetzlichste Kapitel ihres Lebens irgendwann endgültig abzuschließen.
Seinen tödlichen Irrtum, der mit Fred Kowalskis grauenhaftem Tod endete, hatte er in die verborgensten Windungen seines Gehirns verbannt. Er hatte den Mord an einem Unschuldigen zwar verdrängt, doch die winzige, penetrante Stimme seines Gewissens zerrte seine Tat immer wieder aufs Neue aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor.
Er wehrte sich gegen ihre Einflüsterungen, ihre Vorwürfe und hatte ein beachtliches Talent dafür entwickelt die Dinge so auszulegen, dass sie fugenlos in sein neues, verändertes Weltbild passten. Er hatte getötet, na und? Ein perverser Mörder war seiner gerechten Strafe zugeführt worden. Was sollte daran nicht richtig sein? Hätte er ihn nicht getötet, wäre diese Ausgeburt der Hölle straflos davongekommen. Er hatte diesen Sadisten töten MÜSSEN!
Die Flasche mit dem Aconitin hatte er zu den vielen anderen Giftflaschen gestellt, die er schon bald entsorgen würde und damit den letzten Beweis seiner Tat. Durch seine Entscheidung, das Übel in Gestalt Paul Kowalskis gewaltsam aus ihrem Leben zu verbannen, war sie dem Leben zurückgegeben worden. Ja, er war glücklich über Kowalskis grauenhaftes Ende. Jetzt konnte sie endlich wieder ihr eigenes Leben führen. Niemand, außer ihm, wusste von der grausamen Erfahrung, die sie hatte machen müssen. Keiner kannte das Ausmaß ihres Leids. Und so sollte es auch bleiben.
Es war vorbei! Endlich vorbei! Und doch fühlte er sich an manchen Tagen so zweigeteilt, so fremd in seiner eigenen Haut. Aber was machte das schon. Wichtig war nur, dass sie ihr Leben endlich dort weiterführen konnte, wo es so brutal unterbrochen worden war.
Er war es zufrieden, wenn da nur nicht diese schrecklichen Albträume gewesen wären. Seit dem Tod der beiden Männer quälten sie ihn jede Nacht. Doch sie würden mit der Zeit vergehen. Daran glaubte er felsenfest, musste es, um zu überleben.
Das Schlagen der antiken Standuhr schreckte ihn auf. „Mein Gott, so spät schon“, murmelte er verwirrt. Wo war die Zeit geblieben? Saß er etwa schon seit zwei Stunden hier, an seinem Sekretär? Er wusste es nicht mehr und schob den Gedanken beiseite.
Hatte er nicht etwas vorgehabt? Aber was? Etwas Wichtiges? Er hatte es vergessen wie so vieles andere auch.
„Am besten lege ich mich früh hin. Vielleicht kann ich endlich wieder einmal durchschlafen“, murmelte er. „Nur, wollte ich nicht irgendwohin?“, grübelte er laut und strich sich über die Stirn. „Was ist nur mit mir los? Ich kann mich einfach nicht erinnern.“ Er stand auf und reckte sich. Und plötzlich fiel es ihm wieder ein.
„Natürlich! Das hätte ich doch beinahe glatt vergessen. Jetzt muss ich mich aber sputen“, murmelte der Mörder lasch. Er schlurfte ins Schlafzimmer. „Oder sollte ich mich doch lieber hinlegen?“, flüsterte er.
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