„Ihr Mann steckt da irgendwie mit drin, Frau Brauer. Wahrscheinlich ist er nur ein kleiner Fisch, aber er wurde bereits in den letzten zwei Wochen ein bis zweimal mit diesen Leuten gesehen und er war auch heute dabei.“
„Nein“, schrie Chris auf und stolperte rückwärts gegen die Wand. Unfähig sich noch weiter auf den Beinen halten zu können, rutschte sie mit dem Rücken an der Wand hinunter und setzte sich auf den Boden, wo sie schließlich völlig zusammenbrach.
Die beiden Polizeibeamten halfen Chris auf und brachten sie ins Wohnzimmer, wo sie Chris in einen Sessel bugsierten. Da es Chris sichtlich nicht gut zu gehen schien und sie unter Schock stand, benachrichtigte der Polizeibeamte Herr Haas ihre Mutter Henrietta, die auch sofort vorbei kam. Chris beobachtete stumm die ganze Szene und sie hatte das Gefühl, dass Henrietta hergeflogen war, denn so schnell war ihre Mutter noch nie da gewesen. Ihre Mutter war eine sehr ängstliche Autofahrerin und fuhr äußerst langsam, heute musste sie jedoch hergerast sein. Tim Hass schilderte Henrietta kurz den Sachverhalt und stellte auch ihr die gleichen Fragen, die er zuvor Chris schon gestellt hatte. Auch Henrietta wurde sehr blass und musste sich erst einmal hinsetzen. Sie ließ sich neben Chris auf die Sessellehne nieder und ergriff die Hand ihrer Tochter. Jetzt konnte sie verstehen, warum Chris so verzweifelt war und unter Schock stand. Sie selbst war ebenfalls kurz davor. Henrietta konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte und sagte immer und immer wieder:
„Ich verstehe das nicht, er ist so ein lieber und netter junger Mann. Das kann einfach nicht wahr sein. Ich kann das einfach nicht verstehen.“
Chris saß noch immer in ihrem Sessel und starrte aus dem Fenster, wo sich der Garten so langsam aber sicher in eine Schlammgrube verwandelte, wenn es nicht bald aufhören würde zu regnen. Sie versuchte zu begreifen, was heute passiert war, und was gerade hier in ihrem Wohnzimmer vor sich ging. Sie hatte das Gefühl, mitten in einem Film zu stecken, mit ihr in der Hauptrolle. Chris bekam nur teilweise mit, was alles besprochen wurde. Sie hörte kaum hin, wollte es einfach nicht hören. Auch dass ihre jüngere Schwester Nicole plötzlich da war und sich um ihre Kinder kümmerte, bekam Chris kaum mit. Nachdem die Polizeibeamten sich endlich verabschiedet hatten und gegangen waren, brachte Nicole ihre Kinder ins Bett. Chris war ihr dafür sehr dankbar, denn Chris saß noch immer in ihrem Sessel und hatte das Gefühl, dass ihre Beine auch jetzt noch nicht ihrem Gewicht standhalten konnten. Ihre Mutter saß ihr gegenüber auf der Couch und starrte ebenfalls vor sich hin. Niemand sagte ein Wort und es war eine furchtbare Stille in dem Haus, was ansonsten selten vorkam. Henrietta wusste jedoch beim besten Willen nicht, was sie ihrer großen Tochter hätte sagen sollen, sie war selbst ziemlich erschrocken. Chris war in einer elenden Verfassung, doch nichts was Henrietta jetzt hätte sagen können, würde Chris den Schmerz und den Schrecken nehmen.
Nachdem die Kinder eingeschlafen waren, kam Nicole wieder ins Wohnzimmer. Sie nahm Chris in den Arm und verabschiedete sich von ihr. Henrietta jedoch blieb bei ihr. Sie wollte ihre Tochter in dieser Situation nicht allein lassen. Henrietta ging in die Küche und machte Tee und eine Kleinigkeit zu essen. Nach einer Weile kam sie mit einem Tablett wieder ins Wohnzimmer und stellte es neben Chris. Chris schüttelte angewidert mit dem Kopf.
„Du musst doch etwas essen“, sagte Henrietta.
„Ich kann nicht.“
„Versuch es wenigstens.“
Chris hatte jedoch überhaupt keinen Hunger und ihr wurde beim bloßen Gedanken an Essen gleich wieder übel. Sie fürchtete sich augenblicklich übergeben zu müssen, wenn sie auch nur einen Bissen aß, folglich rührte sie ihr Essen auch nicht an, sie zwang sich lediglich ein bisschen von ihrem Tee zu trinken. Henrietta war wieder in der Küche verschwunden, um ein wenig aufzuräumen. Anschließend kam sie wieder zu Chris ins Zimmer, gab Chris einen Kuss auf die Stirn und sagte:
„Ich bin müde und werde versuchen ein wenig zu schlafen. Du solltest auch ins Bett gehen und dich ausruhen.“
„Ja“, sagte Chris leise.
Henrietta verließ leise den Raum und verschwand ins Gästezimmer. Chris saß derweil noch die halbe Nacht in ihrem Sessel und versuchte zu realisieren, was passiert war und wie Danny ihr das antun konnte. Was war passiert? Sie konnte nicht glauben, dass ihr Danny das getan hatte, was ihm vorgeworfen wurde, anderseits wusste sie auch von seiner Vergangenheit. Sie hatte gedacht, dass Danny die Vergangenheit jedoch hinter sich gelassen hatte. Sie hatte sich immer davor gefürchtet, dass ihn seine Vergangenheit irgendwann einholen würde, doch nicht so. Danny war immer ihr Fels in der Brandung gewesen. Sie brauchte ihn genauso wie er sie immer gebraucht hatte. Ihre Gedanken drifteten in die Vergangenheit ab.
Sie kannte Danny nun seit fast sechs Jahren und es war, zumindest für Chris, Liebe auf dem ersten Blick gewesen. Als sie Danny zum ersten Mal traf, war sie gerade mal zwanzig Jahre alt. Sie lernten sich auf einer Geburtstagsfeier von irgendjemandem kennen, dessen Name ihr nicht mehr im Kopf war. Chris war sich nicht einmal sicher, ob sie den Namen des Geburtstagskindes überhaupt je gehört hatte. Es war irgendeine Freundin ihrer Arbeitskollegin Tanja, oder war es ein Freund von ihr gewesen? Sie hatte absolut keine Ahnung.
Chris hatte gerade eine ziemlich üble Trennung von ihrem Freund Heiko hinter sich. Mit Heiko war sie die letzten drei Jahre zusammen gewesen. Er war ihr erster richtiger Freund gewesen und sie hatte sich immer vorgestellt, ihn einmal zu heiraten. Das war, bevor Heiko sie wegen einer gemeinsamen ehemaligen Schulfreundin hatte sitzenlassen. Rückblickend konnte Chris wohl sagen, dass sie schon damals wusste, dass Heiko nicht der Mann war, mit dem sie alt werden wollte. Er war einfach ihre Jugendliebe gewesen, und nachdem sie beide ihren Schulabschluss gemacht hatten, merkte Chris schon sehr schnell, dass sie nicht denselben Weg gingen. Sie lernten beide neue Menschen kennen und entfernten sich langsam, aber sicher immer mehr voneinander, und doch klammerte Chris sich noch eine ganze Weile an die Hoffnung, dass ihre Beziehung mit Heiko ein gutes Ende nehmen würde. Sie hoffte, dass ihre Liebe zu ihm stark genug war, auch wenn es sich nicht mehr so anfühlte wie am Anfang ihrer Beziehung, so wie es sich anfühlen sollte. Doch auch wenn Chris sich ihrer Gefühle für Heiko nicht mehr ganz sicher war, so hatte es sie dennoch sehr verletzt einfach so ausgetauscht worden zu sein, noch dazu mit einer guten Freundin. Was jedoch am meisten wehgetan hatte, war die Tatsache, dass Heiko sie bereits seit einem halben Jahr betrog und weder er noch ihre Freundin es für notwendig erachtet hatten, Chris reinen Wein einzuschenken. Sie kam sich so dumm und naiv vor. Wie hatte sie das übersehen können, dass die beiden direkt vor ihren Augen eine heimliche Affäre hatten. Sie hätte sich gewünscht, dass Heiko ehrlich zu ihr gewesen wäre, denn dann wäre sie nicht mit ihm vier Monate zuvor in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Sie hätte die beiden nicht nackt in ihrem Bett vorgefunden, nachdem sie etwas früher nach Hause gekommen war, da sie sich an diesem Tag nicht besonders wohl gefühlt hatte und deshalb früher Feierabend gemacht hatte. Nachdem sie Geräusche im Schlafzimmer gehört hatte, hatte sie die Tür aufgerissen, um nachzusehen, woher die Geräusche kamen. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung gehabt, was das Geräusch zu bedeuten hatte. Sie hatte noch nicht damit gerechnet, dass Heiko zu Hause sein könnte, da er in letzter Zeit immer sehr spät nach Hause gekommen war. Wie blöd von ihr, nicht schon vorher misstrauisch geworden zu sein, aber sie hatte ihm einfach vertraut. Sie waren schon so lange ein Paar, kannten einander schon so lange. Sie waren schon seit Ewigkeiten in eine gemeinsame Klasse gegangen und schon ebenso lange befreundet gewesen, lange bevor sie angefangen hatten, miteinander zu gehen. Chris hätte nie damit gerechnet, dass er sie dermaßen belügen würde.
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