Als er dann wenig später, frisch gebadet und im eiskalten Meer von den salzigen Rückständen befreit, mit den Freunden beim Festmahl seiner Gastgeber saß, erinnerte sich Khor an Ailins Bemerkung als sie im Salzbecken saßen und prüfte sehr genau, ob dem Salz etwa ein eigenartiger Geruch oder Geschmack anhaftete. Die Frau des Hauses erkundigte sich sogleich besorgt, ob denn mit dem Salz irgendetwas nicht stimme. Doch Khor schüttelte nur den Kopf, grinste verlegen und streute sich eine ordentliche Prise auf den Brotfladen, der dick mit Rahm und Butter bestrichen war.
Es war ein heiterer Abend voll netter Gespräche und Erzählungen. Khor konnte beobachten, wie Gwenaël etliche Kinder vorgestellt wurden, denen er jeweils ein Geschenk überreichte: Ein halbwüchsiger Junge bekam einen Prunkdolch, ein etwas jüngeres Mädchen eine wertvolle mit Kraken bemalte Schüssel. Gwenaël verteilte sogar von Coiras Stoffen und verschenkte einige Brocken Bernstein. Ein besonders aufgewecktes Mädchen hatte es sich derweil auf Gwenaëls Schoß bequem gemacht und weigerte sich trotz der mahnenden Worte ihrer Mutter strikt, den einmal eroberten Platz wieder aufzugeben. Sie kuschelte sich nur noch umso fester an Gwenaël. Er ließ sie gewähren und liebkoste sie so herzlich, dass Khor fast meinte, einen völlig anderen Menschen vor sich zu haben: Ein Hüne, der nichts als weich und zärtlich war. Es waren dies, wie er später erfuhr, tatsächlich Kinder, die Gwenaëls flüchtigen Liebschaften entsprungen waren. Dem Alter der Kinder entsprechend mussten diese jedoch bereits einige Jahre zurückliegen. Geduldig hörte sich der stolze Vater die Berichte über die jeweilige Entwicklung seiner Sprösslinge an, gab Ratschläge und besprach sich mit den Müttern sowie den Vätern, welche seine Nachkommen an Kindes statt angenommen hatten. Khor staunte, wie herzlich und zugewandt diese Gespräche ohne jedwede Eifersüchtelei oder versteckte Vorwürfe abliefen; selbst die Männer schienen sich untereinander ausnehmend gut zu verstehen. Khor entnahm den Gesprächen, dass eine Tagesreise von den Salzfeldern entfernt, inmitten des Meeres eine Insel lag, die seit alters her für die Seegeborenen als Stützpunkt diente und mit der es regen Austausch gab. Anders als bei ihm zuhause und überall sonst auch, gingen hier nicht die Frauen in die Familien ihrer Männer, sondern umgekehrt - die Männer verließen ihr Zuhause und lebten in den Familien der Frauen. Erst durch Sartis interessiertes Nachfragen verstand Khor, was dies letztendlich bedeutete: Es waren die Frauen, welche die Familie fortführten und schließlich auch deren Besitz erbten. Sie waren die Landgeborenen, die die Felder bestellten und das Vieh versorgten. Früher einmal waren die Männer als Seegeborene ständig unterwegs und brachten reiche Beute von ihren Raubfahrten zurück, während es heute bei den Wenigen, die noch als Seegeborene lebten, Ergebnisse glücklichen Tauschhandels waren. Nichtsdestoweniger wünschten die meisten Frauen einen Ehemann, der auch anwesend war und nicht ständig auf See. Also heirateten sie entweder Einheimische, was jedoch ein wenig anrüchig zu sein schien, wie Khor meinte, bemerkt zu haben, oder aber Landgeborene von jener eine Tagesreise entfernten Insel. Frauen von dort heirateten selbstverständlich auch Männer von den Salzfeldern, so dass beide Sippen, die Menschen von der Insel und jene von den Salzfeldern, inzwischen zu einem einzigen Volk verschmolzen waren. Voller Stolz bestanden sie allerdings darauf, dass die Unterschiede zwischen ihnen kaum größer sein konnten. Khor feixte, als er ihre Beweisgründe hörte, erinnerten sie ihn doch an all die dummen Dinge, die man auch zuhause von den Menschen behauptete, die hinter dem Zerbrochenen Berg, am Meer oder in der Bernsteinstadt im Süden lebten: Sie seien faul, oftmals überheblich, unstet und bei weitem nicht so gebildet wie die Menschen hier. Und nicht wenige von ihnen, so wurde durch lebhaften Beifall bestätigt, waren sogar ausgesprochen dämlich, wenn nicht gar dumm. Sie schmatzten und rülpsten beim Essen, was man hier jedoch als ungehörig empfand. Und schon schmatzten und rülpsten alle, um den Gästen vorzuführen, was ihnen hier erspart blieb. Man lachte viel, durchaus auch gerne über sich selbst, man trank Apfelmost und kostete das Bier. Man nahm die Gelegenheit wahr und ließ diesen Abend zu einem ausgelassenen, zu einem fröhlichen Abend werden.
„Heute habe ich das erste Salz des Jahres geerntet“, rief der Gastgeber plötzlich und erhob sich. „Und heute haben wir liebe Gäste.“ Beifall. „Also soll heute ein Feiertag sein. Heute ist alles erlaubt, was Freude macht und Freude bringt.“ Man bejubelte diese Ankündigung wie ein lang ersehntes Geschenk. Khor verstand auch sogleich warum. So manches über die Zeit versteckte Begehren durfte nun unverhohlen geäußert werden. Der offenbar einheimische Mann der Mutter des Mädchens, das auf Gwenaëls Schoß saß, teilte einer drallen Roten lächelnd mit, dass er ihren Busen stets mit Lust und Freude betrachte. Woraufhin die Angeschwärmte in albernes Kichern ausbrach und ein atemloses „Wirklich?“ nach dem anderen losließ, um ja nur noch mehr von derart netten Worten gesagt zu bekommen. Derweil rückte die zurückgelassene Ehefrau noch ein Stückchen näher an Gwenaël heran. „Er liebt große Brüste“, hauchte sie. „Du doch auch, wenn ich mich recht entsinne.“ Khor nahm zur Kenntnis, dass dem offenkundig so war.
„Bist du nicht der mit dem Wolf?“ wurde Khor plötzlich gefragt, während sich eine Hand auf seinen Oberschenkel legte. Ein strahlend schöner Jüngling mit goldenen Ringen im Haar hatte sich neben ihn gesetzt.
„Doch“, entgegnete Khor, „das bin ich“ und nahm die Hand des anderen und legte sie sanft, aber bestimmt auf dessen eigenes Bein zurück.
„Ach, schade“, lachte der Goldberingte und bemerkte Khors erstaunten Blick. „Damit meine ich nicht, dass ich es schade finde, dass du der Wolfshundtreiber bist, sondern dass du meine Hand zurückgelegt hast. Dabei habe ich eben noch zu meiner Schwester gesagt, dass du wohl etwas für mich sein könntest.“ Fragend blickte er Khor in die Augen. „Nicht? Na dann sollte ich doch wohl besser ihr diesen Platz hier neben dir überlassen.“
„Es ist Feiertag, nicht wahr?“, grinste Khor.
„Jawohl, es ist Feiertag! Und, mein Freund, das heißt, dass jeder jedem sagen darf, dass er gerne ein wenig die Lust am Leben mit ihm teilen würde. Wenn der andere nicht mag, dann darf man aber nicht gram sein, dass man abgewiesen wurde. Ebenso wenig wie jener, der gefragt wurde, verärgert darüber sein darf, dass er gefragt wurde.“
„Aha“, meinte Khor, nicht sicher, ob er auch richtig verstanden hatte. „Niemand nimmt jemand etwas übel, nicht wahr?“
„So ist es!“, rief der Goldberingte begeistert und gab Khor einen Kuss auf die Stirn. „Was für ein hübscher und kluger junger Mann du doch bist.“
Khor schubste ihn lachend zurück. „Lass das, du frecher Kerl. Ich hab’s dir doch schon gesagt, dass mir nicht der Sinn danach steht.“
„Ach, bist du süß! Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich nicht doch einen Versuch unternommen hätte. Also wenn du deine Meinung noch ändern solltest …“, er zwinkerte auffordernd. „Von euch Vieren hast du mir jedenfalls am besten gefallen.“
„Ottel“, fiel es Khor ein.
„Ihhh, nein! So ein Mannsbild! Er sieht ja ganz sauber und gepflegt aus, aber er ist bestimmt ein grober Kerl.“
Khor wollte seinem Gegenüber schon mitteilen, wie sehr er sich mit dieser Einschätzung geirrt hätte, als er sich eines Besseren besann. „Und wie gefällt dir Sarti, unser rothaariger Freund?“
„Der Humpler? Eigentlich hat er ja ein ganz nettes Gesicht. Und wenn er lacht, sieht er herzallerliebst aus. Und seine roten Haare …“ Abschätzend wiegte er seinen Kopf. „Ich schau mir das einmal von der Nähe aus an. War nett, mit dir geplaudert zu haben.“ Und so schnell er gekommen war, so schnell war der Goldberingte auch wieder verschwunden. Sarti, dessen war sich Khor sicher, war allerdings schon längst vergeben. Er war umzingelt von einigen üppigen rotblonden Schönheiten, die sich sehr um seine Aufmerksamkeit bemühten. Offenbar hatte er sich aber noch nicht recht entscheiden können, denn er schäkerte mal mit der einen und dann wieder mit einer anderen. Der Goldberingte musste allerdings einsehen, dass er auch hier nicht weiterkommen würde und wandte sich stattdessen einem betrübt dreinschauenden Ehemann zu, dessen Frau sich an diesem Feiertag jemand anderen ausgesucht hatte. Und wie Khor vergnügt feststellen konnte, war der Alleingelassene auch bald sehr viel weniger betrübt.
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