„Oh, meine Lieblinge!“, rief Gwenaël laut und breitete die Arme aus wie ein Dichter, der des Abends am Feuer hingebungsvoll von großer Liebe und ewiger Treue singt. Khor schien Gwenaëls Auftreten ein wenig übertrieben, aber den Menschen an Land gefiel es, denn sie jubelten umso mehr. In der Menge hatte Khor auch bereits einige Kinder und Jugendliche mit rotblondem Schopf ausgemacht, die ohne weiteres als Gwenaëls Abkömmlinge durchgehen konnten.
„Wie mir scheint, hat unser Freund Gwenaël hier seine saftigsten Lenzjahre verbracht“, meinte Broc trocken, woraufhin Sarti albern kicherte.
„Aber schau nur, wie sie sich freuen, Gwenaël zu sehen!“ Ottel war begeistert. „Das ist ein anderer Empfang als gestern.“
Offensichtlich waren hier Kinder ohne Väter nichts, was einem Vergehen gleichkam, sondern halbwegs üblich. Jedenfalls konnte Khor einige Frauen in Begleitung sehr unterschiedlicher Kinder sehen, die deren gelegentlich anwesenden Ehemännern auch nicht unbedingt ähnlich sahen. Allerdings sah Khor schnell ein, dass die schiere Anzahl rotblondschöpfiger Kinder und Jugendlicher, selbst Gwenaëls Einsatzwillen überstiegen haben dürfte.
Es war eine Siedlung seiner Sippe, wie Gwenaël erklärte, der die Unterhaltung seiner Freunde mit halbem Ohr mitgehört hatte. Einige der wassermüden Seegeborenen, die sich vor vielen Generationen irgendwo niederlassen wollten, erinnerten sich an diese Bucht – und ihre natürlichen Salzbecken. Und Salz, das wusste ja jeder, bedeutete nun einmal Reichtum. Eindeutig war dem so, wie Khor mit eigenen Augen feststellen konnte: Selten hatte er wohlgenährtere, besser gekleidete und sauberere Menschen gesehen. Und in so viele freundlich lachende Gesichter hatte er ebenfalls lange nicht mehr geblickt. Diese Freundlichkeit war ansteckend. Khor freute sich also auf die liebenswürdigen Fremden, so, wie sie sich offensichtlich auf ihn freuten. Auch Ottel war glückselig. Er lachte und winkte, schäkerte und warf sogar Luftküsse, die sogleich aufs Eifrigste erwidert wurden. Selbst der zurückhaltende Broc ließ sich von der heiteren Stimmung anstecken und winkte hoheitsvoll. Mit Kennerblick hatte er einen in gebleichtem Leinen gekleideten Mann entdeckt, in dem er den Priester vermutete. Offenbar erkannte auch der andere in Broc Seinesgleichen, denn es genügten Blicke, um sie sogleich zu Brüdern werden zu lassen. Auch Sarti spürte die unterschiedslose Wärme des Willkommens. Ein junger Mann auf Krücken rief ihm etwas zu, das er leider nicht verstand. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass es etwas Freundliches gewesen war. Schnell waren sie von Bord gegangen und wurden in das Haus von Gwenaëls nächsten Verwandten gebeten. Sollte dies etwa der Ort sein ‑ so überlegte Khor ‑, wo die glücklichsten Menschen lebten?
Nun, es war zweifellos ein gesegnetes Fleckchen Erde, wie Khor schnell feststellen konnte. Doch auch hier hatten die Menschen ein jeder sein eigenes Päckchen zu tragen. Seine Gastgeber, ein rotblonder Hüne und eine unablässig lächelnde rotwangige, ebenso blonde Frau, hatten im vergangenen Jahr ihre älteste Tochter verloren. Gwenaël hatte noch ganz unbedarft nach ihr gefragt, weil er sie vermisste. Er hatte sie nicht mehr gesehen, so erklärte er, seit sie noch Kind und er ihr erster Schwarm gewesen war. Die arme Frau brach in Tränen aus und selbst ihr Mann konnte kaum die Fassung bewahren. In dieser Stunde der Freude so unvermittelt nach dem geliebten Kind gefragt zu werden, ließ sie den Verlust nur noch umso schmerzlicher wahrnehmen. „Weint nicht“, sagte Broc. „Weint nicht um das, was ihr verloren habt. Sondern freut euch, über das, was ihr haben durftet.“ Die Frau wischte ihre Tränen fort und strahlte wieder ihr herzliches Lächeln. Schüchtern gab sie Broc einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Danke. Du hast die Dämonen gebannt, die mich gefangen hielten. Ich werde von jetzt an versuchen, mich deiner Worte zu erinnern. Vielleicht findet meine Seele dann endlich etwas Ruhe.“
Während Gwenaël sich mit seinen Verwandten austauschte, hatte Broc sich schon längst mit dem Priester in eine Ecke des Hauses der Gastgeber zurückgezogen, wo sie sich angeregt unterhielten. Broc hatte bereits mehrfach nach Sarti gerufen, der allerdings mit dem jungen Mann auf Krücken in ein Gespräch vertieft war, aus dem er sich so nicht schnell wegrufen lassen wollte. Das ganze Haus brodelte vor Emsigkeit. Aufgeregt wurden Anweisungen und Befehle hin und her gerufen und um die Feuerstelle war ein regelrechter Kampf der Mägde entbrannt, galt es doch, ein Festessen vorzubereiten, das allen für immer im Gedächtnis bleiben sollte. Da er nichts dazu beitragen konnte, als lediglich im Weg zu stehen, drückte sich Khor bei nächster Gelegenheit durch die Tür, wo er von dem wartenden Wolfshund wie nach langer Abwesenheit begrüßt wurde. Es war ein warmer goldener Spätnachmittag, der bereits deutlich nach Frühling roch, während sie Zuhause noch immer Schnee haben konnten. Khor atmete tief ein und roch das Salz. Seine Geschwister hatten ihn immer ausgelacht, wenn er sagte, dass er das Salz schon aus der Ferne riechen könne, das Högr aus der Quelle nahe der Uneströdu gewann. „Hmm, Salz“, murmelte er und atmete abermals tief ein.
„Dummkopf! Salz riecht doch nicht.“ Ottel hatte ebenfalls das Haus verlassen. „Hast du Lust, mit uns zu kommen? Sartis neuer Freund will uns eine Stelle zeigen, wo man ein Salzbad nehmen kann.“ In diesem Augenblick gab es nichts auf der Welt, was Khor begehrenswerter erschien, als ein Bad zu nehmen; worin auch immer.
Es war zwar kein allzu weiter Fußweg, aber mit Airil, dem jungen Mann mit der Krücke, dauerte es doch eine gewisse Zeit, bis sie bei den Salzbecken angelangt waren. Airil erzählte derweil, wie ihn ein unsanft anlandendes Schiff zum Krüppel gequetscht hatte, während seine kleine Freundin, die Tochter von Khors Gastgebern, bei diesem Vorfall ums Leben gekommen war. Sie hatte noch nicht einmal mehr schreien können, so schnell hatte der Tod sie fortgeholt. Beinahe hätten sie über dieser traurigen Erzählung die Lust an ihrem bevorstehenden Salzbad verloren. Und so war es Ailin, der sich als Erster die Kleider vom Leib riss und sich einfach ins Wasser plumpsen ließ. Es war eines der ersten Salzbecken, aus dem das Wasser nach etlichen Tagen unter der sengenden Sonne in das nächste, weniger tiefe Becken geleitet wurde, bis schließlich am Ende in einer ganzen Reihe von immer flacheren Bassins das Salz auskörnte. Als Khor es Ailin gleichtat und sich ebenfalls ins Becken fallen ließ, erschrak er zunächst, denn das Wasser war so warm wie in Mutters Badeschüssel. Obwohl die Sonne schon kräftig brannte, war die Luft, entsprechend der Jahreszeit, noch frisch. Doch in dem aufgeheizten Wasser des Salzbeckens fühlte es sich wohlig warm und aufgehoben an. Auch Ottel und Sarti stürzten sich hinein und jauchzten wie die Kinder.
„Was ist das nur für eine Schweinerei“, meinte Sarti plötzlich. „Wir waschen hier unsere stinkigen Leiber in eurer Salzbrühe und irgendwann einmal streut ihr euch das Salz aufs Brot.“
Ailin lachte vergnügt und deutete landeinwärts. „Siehst du die Salzbecken dort? Es sind Hunderte bis endlich Salz aus dieser Brühe hier geworden ist. Dreh dich um! Siehst du, die ganze Bucht ist voll mit solchen Salzbecken. Ein bisschen bis ins Unendliche verdünnter Menschengestank mag sogar noch eine besondere Geschmacksnote hinzufügen. Wir pissen sogar manchmal hinein …“
„Darum ist das Wasser wohl auch so warm, du altes Ferkel“, polterte Ottel und alle planschten ausgelassen wie die Kinder. Doch das warme Wasser war beruhigend und außerdem war man froh, nicht mit nasser Haut an die kühle Luft zu müssen. So lagen sie schließlich einer neben dem anderen im wohlig warmen Wasser und sahen die Sonne im Westen glutrot versinken. Sobald ihre Strahlen die Kraft verloren hatten, stieg weißer Dampf von den warmen Salzbecken in die kühler werdende Luft der Dämmerung. Schon bald waren die Ufer der gesamten Bucht unter zarten Nebelschleiern verschwunden. Khor musste lachen, denn von den Köpfen seiner Freunde zogen ebenfalls feine Nebelgespinste nach oben, so dass man meinen konnte, sie rauchten. „Ihr seht aus, wie Wachteln in der Feiertagssuppe“, frotzelte er. „Gut gesalzen seid ihr jedenfalls.“
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