Und die war offenbar unvorhersehbar groß. Denn am nächsten Halt, so hatte Gwenaël angekündigt, würden Khor und seine Freunde eine weitere Tante Gwenaëls kennen lernen. Sie stand ihm zwar nicht so nah wie Tante Una, da er sie aufgrund der Entfernung ja auch sehr viel weniger oft getroffen hatte, gleichwohl hatte er die weise Frau immer sehr gern gehabt.
Der Tag verflog über all den Neuigkeiten, die Broc und Sarti berichteten. Sie saßen mit Khor, Ottel und Gwenaël auf Deck beisammen und erzählten, was sie in der letzten Nacht erfahren hatten. Vor Tausenden von Jahren hatte man hier ebenfalls riesige Steine aufgerichtet. Auch die Sitte der Hügelgräber kannte man. Der Priester hatte von langen Steinalleen gesprochen, an denen sie bald vorbeikommen würden. Gwenaël nickte, kannte er den Ort doch nur zu gut, da dort ebenfalls ein entfernter Verwandter von ihm lebte.
Später am Nachmittag stand Gwenaël des Öfteren auf, ging zum Bug, spähte von dort voraus, ging nach hinten zum Steuermann und sprach mit ihm. Als sich dies einige Male, in immer kürzeren Abständen wiederholt hatte, fragte ihn Khor, ob denn auch alles seinen Vorstellungen entsprechend abliefe.
„Durchaus“, zwinkerte Gwenaël. „Die Wasser des Meeres tragen uns, wohin wir wollen. Und da der Wind uns ebenfalls gewogen ist, sind wir bald da.“ Und an alle gewandt, fuhr er mit lauter Stimme fort. „Hört! Das also ist der Vers für unseren nächsten Hafen.“ Gwenaël stellte sich in Pose.
„Rote Felsen, grünes Land,
blauer Himmel, helles Band,
grüßen in der Wintersonne Tod.
Rechts sieht es so freundlich aus,
links ist’s besser. Geradeaus!
Folget nur dem Lauf des Rinnsals.
Fahr hindurch und ohne Not
wirst du dann zum Herrn des Schicksals.“
Rote Felsen gab es reichlich, überlegte Khor, grünes Land und blauen Himmel ebenfalls. Was mochte mit dem hellen Band gemeint sein, das in der Wintersonne Tod grüßt? Es musste etwas sein, das genau auf den Sonnenuntergang am Tag der Wintersonnenwende ausgerichtet war. Khor hielt den Atem an. Mitten auf einer steilen Klippe, die wie eine Halbinsel ins Meer hinausragte, sah er im gelben Licht der Abendsonne ein helles Band leuchten.
„Barremeer“, sagte Gwenaël ehrfürchtig. „Vor Jahrtausenden hat man es aus hellen Steinen errichtet.“
„Sind dies etwa schon die weißen Berge“, fragte Khor, „die einst von Menschen erbaut wurden und von denen du uns bereits erzählt hast?“
„Nein“, lachte Gwenaël, „die sind noch ganz weit weg. Und außerdem sind sie noch sehr viel größer! Aber auch dieser Berg wurde einst von Menschenhand errichtet, Stein für Stein. Keiner weiß so recht, warum. Jeder hat da so seine eigene Erklärung. Heutzutage wird er allerdings nur noch für Mannbarkeitsriten genutzt. Wer in einer seiner Kammern eine Nacht übersteht, bekommt als Beweis dafür solch ein Amulett“, Gwenaël nestelte etwas unter seinem Gewand hervor, „und darf sich anschließend als Mann fühlen.“
„Aha“, staunte Khor, „dort hast du offenbar auch deine Mannbarkeit erreicht.“
„Ich war zweimal sieben Jahre alt damals und habe wirklich Angst gehabt in jener Nacht …“, gestand Gwenaël.
Wissbegierig unterbrach Sarti Gwenaëls Erinnerungen. „Und welches sind deine Erklärungen, warum man in Vorzeiten den Bau errichtet hat“, fragte Sarti.
„Nun“, Gwenaël sammelte sich. „Seit jeher wird in meiner Familie erzählt, dass irgendwo weit über dem Meer vor Jahrhunderten die größten Anführer der Seegeborenen bestattet worden waren. Die Seegeborenen besaßen ja nie Land, ihr Reich war immer nur das Meer, sie waren ständig unterwegs. Dort, auf dem Meer, lebten sie und dort starben sie auch. An Land lebten nur die Landgeborenen. Das waren jene, die nicht mehr länger unterwegs sein wollten. Schließlich erkannten auch die Seegeborenen, dass sie nur überleben konnten, wenn sie ihr Nomadentum auf dem Wasser aufgaben und ebenfalls, zumindest zeitweise, sesshaft wurden. Deswegen ließen sich ihre Führer auf den Gipfeln von Halbinseln bestatten. Dazu errichtete ihnen das Volk einen künstlichen Berg, der immer mehr vergrößert wurde bis er schließlich die heutigen Ausmaße annahm. Die Gräber sind längst schon ausgeraubt und leer und bieten heute nurmehr den Schauplatz für die Gruselabenteuer Halbwüchsiger. Wie bereits gesagt: Sie bestehen dort eine Nacht der Furcht und dürfen sich anschließend Männer nennen.“
„Gruselabenteuer?“ Ottel war ganz Ohr.
„Nun, man wird von den Schamanen in eine der Grabhöhlen gesteckt und muss die ganze Nacht dort verbringen.“ Gwenaël schüttelte den Kopf. „Nur wer den Mut hat, auch eine ganze Nacht dort auszuhalten, hat die Mannbarkeitsprüfung bestanden.“
„Und was erlebt man dort?“, fragte Ottel gespannt. „Gespenster, Geister oder auch Dämonen?“
„All das“, entgegnete Gwenaël, „und doch nichts von alledem. Es ist allein deine eigene Einbildungskraft, welche die Schrecken gebiert. Die Grabhöhlen sind leer, bis auf ein paar Ritzzeichnungen an den Steinplatten. Aber es ist deine Seele, die dich bald glauben lässt, von Geistern umringt zu sein. Manch einer hält das nicht aus und verlässt die Höhle vor der Zeit. Und manch einem wurde dabei der Geist vollends verwirrt. Der Wind fängt sich dort in den Steinen und macht die seltsamsten Geräusche. Tante Yuna hatte mich zwar auf das Gesurre, Gezische und Gejaule vorbereitet, aber dennoch glaubte ich, die Nacht nicht überstehen zu können. Doch ich war damals ja auch gerade zweimal sieben Jahre alt.“
„Wie geht es in deinem Vers weiter?“, wollte Sarti wissen, der misstrauisch die nun links und rechts des Schiffes vorbeiziehenden schroffen Felseninseln beäugte.
„Links von der Halbinsel ist der richtige Weg, auch wenn es rechts davon sehr viel ungefährlicher und einladender aussehen mag. Bei Flut gelangt man zu einem kleinen Hafenbecken, das tief genug ist, um ein Schiff auch bei Ebbe aufnehmen zu können, wenngleich sonst nur noch ein kleines Rinnsal zum offenen Meer führt.“
„Und was bedeutet der Schluss des Reims, nämlich dass wir zu Herren des Schicksals werden“, wollte Sarti wissen.
Gwenaël zuckte mit den Schultern. „Die Altvorderen glaubten, dass es bestimmte Orte gäbe, an denen sich so etwas wie Zentren der Lebensenergie befinden. Der Große Steinkreis auf meiner Insel gehört ebenso dazu, wie Barremeer, Kharrn und Oisena, wo wir morgen und übermorgen anlanden werden. Wer jedes dieser Zentren besucht und dort die nötigen Riten vollzieht, gehört zu den unbezwingbaren Seegeborenen.“
Durch das klare Wasser konnte man deutlich sehen, dass sie eine Rinne befuhren, die direkt zu einer kleinen Bucht führte, an dessen Ufer eine Ansiedlung lag. Der Wind stand günstig und blies aus Westen, so dass sie trotz des langsam abfließenden Wassers, das ihnen strudelnd entgegenkam und sie wieder aufs Meer zurück zu drücken drohte, immer weiter landeinwärts die Rinne entlang fahren konnten. Auch hier befand sich eine Schwelle an der Hafeneinfahrt, die sie beim gegenwärtigen Wasserstand gerade noch überqueren konnten. Es knirschte und scharrte fürchterlich, so dass nicht nur Sarti angst und bange wurde. Schließlich lag Gwenaëls Schiff stolz inmitten eines kleinen Sees, den die abziehende Flut zurückgelassen hatte. Schnell wurde das Schiff an einer hölzernen Landungsbrücke festgemacht.
„Wesentlich tiefer wird das Wasser nicht fallen“, sagte Gwenaël zufrieden und deutete auf die soeben erst überquerte Schwelle, die inzwischen bereits aus dem Wasser ragte.
„Welch seltener Besuch!“, rief eine Frauenstimme vom Ufer herüber. „Zuerst wollte ich meinen Augen ja nicht recht trauen. Meines Bruders Sohn! Zugenommen hast du an Alter, Weisheit und Stärke, Gwenaël.“ Die Stimme lachte vergnügt. „Wie schön, dich wieder zu sehen, mein Junge!“ Eine steinalte Frau, weißhaarig und auf einen Stock gestützt, winkte freundlich herüber. „Sei mein Gast, Gwenaël! Und auch deine Begleiter sind mir herzlich willkommen.“
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