Ein grummelndes Geräusch irritierte ihn.
Er wandte sich zu den drei Zwergen der Palastwache um, die ihn begleiteten. „Was war das?”
Die drei zuckten die Achseln.
Obeidian suchte mit den Augen die ausgedehnte Grube ab, die in den Berg gekerbt worden war. Überall ragten Wurzeln aus den Wänden und schroffe Felsspitzen waren freigelegt. Obeidian sah noch genauer hin. Zwischen den Felsbrocken, die in der Grubenwand steckten, waren Öffnungen.
Sand rieselte.
Das grummelnde Geräusch erklang erneut.
Obeidian zückte sein Tuch. Er hob es zur Stirn, doch dann hielt er inne. Was wäre, so kam es ihm in den Sinn, was wäre, wenn diese Öffnungen nicht nur kurze Einschnitte in den Berg wären, sondern sich zu weiteren Hohlräumen fortsetzten? Was wäre, wenn dies Eingänge wären zu -
Obeidian wurde schwindlig. Er steckte das Tuch unbenutzt in die Tasche zurück und lehnte sich gegen einen Felsbrocken. Geröll klockerte unter seinen Sohlen talwärts.
Ihm wurde klar: Er musste sich der Wahrheit stellen. Eingänge war das falsche Wort.
Wenn er mit seinen Befürchtungen recht hatte, dann handelte es sich um Ausgänge.
Prinz Nanobert kämpfte sich durch das wilde Gewirr von Moorgewächsen und Schlingpflanzen, auf der Suche nach seiner Schwester, die der Vulkandrache entführt hatte. Stechmücken fügten ihm tückische Stiche zu. Immer wieder schossen Schlickschlangen aus dem Morast und attackierten ihn mit ihren Giftzähnen. Wie Pfeile, von Unterwasserschützen abgefeuert, stachen sie hervor, und Nanobert hatte alle Mühe, sie mit seinem Kurzschwert abzuwehren.
Er schwitzte. Die Luft war feucht und heiß.
Wohin weiter? Nanobert sah vor sich nichts als dichten Dschungel. Die Bäume wurzelten im Sumpfgrund und erstreckten sich hoch bis zum Himmel, und sie standen jetzt so eng, dass er sich mit seinem Schwert kaum noch durchschlagen konnte.
Eine braungrüne Wand aus Holz und Blattwerk stand vor ihm.
Er fühlte seine Kräfte schwinden. Die Waldwand sah verteufelt undurchdringlich aus.
„Milliane!”, heulte Nanobert auf. „Konntest du dir nicht einen zugänglicheren Unterschlupf aussuchen?”
Keinerlei Echo. Der Sumpfdschungel schluckte jeden Hall.
Er bahnte sich weiter den Weg durch die Baumbestände und schimpfte bei jedem Schwerthieb: „Schwestern! Schwestern! Niemals sollte man sich mit Schwestern einlassen!”
Die Flüche erleichterten ihm seine Arbeit ein wenig, doch schon bald ließen seine Kräfte wieder nach. Nanobert fragte sich, wie man es nur schaffen sollte, in diesen Dschungel einzudringen. Wo war dieses dreimalverfluchte Drachennest?
Und während er mit seinem Kurzschwert gegen den grünen Feind weiterfocht, kam ihm die Erkenntnis: Natürlich! Nur durch die Luft kann das gelingen! Drachen können fliegen, aber ich zu Fuß habe keine Chance!
Er ließ sein Schwert sinken und setzte sich auf eine Baumwurzel. Seine Füße staken bis zu den Knöcheln im Sumpf. Da! Eine Schlickschlange zuckte heran und schnappte nach seinem Bein! Nanobert reagierte sofort und klatschte sie mit der flachen Schwertklinge beiseite. Das Reptil grub sich zurück in den Morast.
Das konnte nicht mehr lange so weitergehen.
Nanobert wischte sich den Schweiß von der Stirn und suchte eine Stelle, an der die Pflanzen nicht ganz so dicht beisammen wuchsen. Dann atmete er tief ein, straffte die Schultern und schlug sich den Weg frei.
Kapitel 5: Boldbehausungen
Der stämmige Pek schritt voran, der dünne Gak bildete die Nachhut. Patrick ging zwischen den beiden, den Plauderbalg umgehängt. Quakarotti lugte aus seiner Hemdtasche.
„Wohin gehen wir?”
„In unser Lager”, antwortete Pek.
Eine Zeitlang herrschte Schweigen, dann erkundigte sich Patrick: „Gehört ihr zu den Grenzwachen?”
Pek lachte rau. „Sehen wir aus wie Zwerge?”
Das gab Patrick zu denken. Nein, Zwerge waren kleiner und hatten Haare auf dem Kopf. Und die Bekleidung dieser Gesellen wirkte derber, als seien sie an ein Leben in der freien Natur gewöhnt.
„Wir sind Bolde”, sagte Pek und riss Patrick damit aus seinen Gedanken. „Wir haben mit Zwergen nichts zu tun. Und wir wollen auch gar nichts mit ihnen zu tun haben.”
„Zwerge sind unter unserem Niveau”, bemerkte Gak grinsend.
Patrick überlegte, dann meinte er: „Ich dachte, Zwergonien ist das Land der Zwerge.”
Pek schnaubte auf. „Das denken die Zwerge auch. Die haben keine Ahnung, wer noch alles in ihrem Land lebt. Sie möchten gern glauben, dass sie die Einzigen sind. Aber die anderen Völker sind immer noch da, sie haben sich nur zurückgezogen. Wir Bolde lassen die Zwerge in Ruhe und hoffen, dass sie uns in Ruhe lassen.”
Patrick dachte darüber nach, während sie über steinige Wege liefen. Es war nicht die Richtung, aus der er mit Nanobert aus dem Vulkangebiet gekommen war. Mehr und mehr säumten Graspflanzen den Weg, bald sprossen Sträucher, und nach einer Stunde sah sich Patrick von Büschen und Bäumen umgeben. Immer tiefer gerieten sie in dichten Wald. Als die Abenddämmerung hereinbrach, begann sich Patrick zu fragen, warum er diesen Fremden so bereitwillig in ihr Lager folgte. Schön, sie hatten ihn aus dem Sumpf gerettet, aber war das ein Grund, ihnen zu vertrauen? Wie konnte er sicher sein, ob sie nicht Übles mit ihm vorhatten? Wer sagte denn, dass es dieses Lager überhaupt gab! Vielleicht brachten sie ihn nur irgendwohin, wo sie in aller Ruhe mit ihm Sachen anstellen konnten wie neulich die menschenfressenden Saturn-Dämonen auf Kanal 16, wonach Patrick stundenlang nicht einschlafen konnte, weil er immerzu daran denken musste, wie diese Dämonen -
„Da ist unser Lager”, sagte Pek.
Patrick blinzelte und versuchte in die Wirklichkeit zurückzufinden. Vor ihm lag eine Lichtung, in deren Zentrum ein großes Feuer loderte. Mehrere kahlköpfige Gestalten hockten drum herum und rösteten an langen Spießen irgendwelche Nahrungsmittel. Kaum einer würdigte die Neuankömmlinge eines Blickes. Vereinzelte Bäume wuchsen hier; einige sahen aus, als hätte ihnen ein übermütiger Schneider großzügig geschnittene Gewänder angepasst. Vom Boden aufwärts schwangen sich Stoffbahnen und oben ragten die Baumkronen wie aus Kragen heraus.
„Habt ihr diese Bäume verhüllt?”
„Ja”, erwiderte Pek.
„Sollen das … sollen das Kunstwerke sein?”
„Nein. So wohnen wir. Komm, ich bringe dich zu unserem Anführer. Er hat sein Quartier dort, um die große Eiche.”
Patrick folgte Pek auf den knorrigen Baum zu, der die ausladendste Stoffumhüllung von allen besaß, mit einer Markise über dem Eingang. Durch Nähte und Ritzen drang flackerndes Licht.
Es sind Zelte, kam es Patrick in den Sinn. Sie bauen Zelte um Bäume herum!
„Warte hier.” Pek ließ Patrick stehen, schlug eine Stoffbahn beiseite und verschwand im Innern des Baumkleides. Gleich darauf drangen gedämpfte Stimmen heraus. Patrick bemühte sich, etwas zu verstehen, doch es war zu leise …
„He! Was machst du denn da?”
Patrick fuhr herum. Ein grobschlächtiger Bold ragte vor ihm auf.
„Äh, ich, äh …”
„Du lügst!”, donnerte der Bold. „Dafür kriegst du jetzt die Fresse poliert!”
Der Grobian hob eine beunruhigend große Faust. Patricks Kehle wurde trocken. Er sah die Faust über sich, die ihn gleich zerschmettern würde und duckte sich, umklammerte seinen Kopf mit den Händen.
Einige Sekunden lang wartete er auf den vernichtenden Hieb.
„Hör auf, Rok, der Kleine hat schon genug durchgemacht.”
Das war Gaks Stimme. Patrick wagte einen Seitenblick – tatsächlich, da stand der dünne Bold und lächelte.
„Lass mich in Ruhe meine Arbeit machen!” Rok holte noch höher mit seiner Faust aus, hob sie über seinen Kopf.
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