Er kannte das – die Studienkollegen spielten tagtäglich darauf an. Nicht umsonst nannten sie ihn spöttisch › Mônsieur Richard‹ – mit einem besonders intensiv betonten ›O‹.
Pünktlich um ein Uhr fuhr die dunkelgrüne Limousine mit Max am Steuer vor.
Richard atmete erleichtert auf, riss den Passanten neben sich fast mit, als er beim Umschlagen der Ampel losstürmte, und saß wenige Sekunden später erlöst lächelnd auf dem Rücksitz des Wagens.
»Wie war die Vorlesung, Herr Richard?«, erkundigte sich Max gewohnheitsmäßig.
»Langweilig, Max! – Ich frage mich manchmal, wozu ich das eigentlich noch tue.«
»Na, irgendwas müssen Sie doch tun!«
»Aber ich … ich bin vollauf beschäftigt, Max.«
»Mit der Musik … ja! – Aber Sie wollen ja gar nicht auftreten … Konzerte geben und so.«
»Wie? – Konzerte? – Dort sitzt man in Jeans und Pullovern im Saal, kaut Kaugummi und denkt an die Stereoanlage zuhause, auf der man gebotene Werke schon in viel besserer Interpretation abgehört hat, wie? – Nein, danke! – Bevor ich die alten Geister entwürdige, studiere ich lieber noch.«
Max reagierte nicht darauf. Er konzentrierte sich auf den Verkehr.
Den Nachmittag über war Richard im Park. Er hatte seinen langen Gehrock übergeworfen und stocherte mit dem Spazierstock seines Großvaters im Schnee herum. Hin und wieder zückte er einen Notizblock und trug ein, was ihm aufgefallen war.
»Aha!«, rief er aus, als er die Ursache für die Neigung einer kleinen Statuette herausgefunden hatte, die ihm am Vortag aufgefallen war. Unter dem Sockel mussten Maulwürfe das Erdreich gelockert haben – daneben hatte er jedenfalls einige Maulwurfshügel entdeckt.
* * *
»Was hast Du eigentlich den Nachmittag über gemacht?«, erkundigte sich Richards Mutter, als er mit ihr zusammen um halb fünf Kaffee im kleinen Salon trank.
»Ich war im Park.«
»Und?«
»Oh, mir ist aufgefallen, dass die Maulwürfe ziemlich rege sind. Das muss am Temperaturanstieg liegen. Die denken vielleicht, dass der Frühling schon angebrochen ist.«
»Richard … Richard … damit hast Du den Nachmittag verbracht?«
»Nicht nur, Mama! – Ich habe mich vorhin hinten beim Springbrunnen auf die Bank gesetzt und mich in eine Vision hineingelebt. Es war großartig. Ich sah das Haus in seiner vollen Pracht vor mir … abends. Es dämmerte und alle Fenster waren erleuchtet. Eine ausgelassene Abendgesellschaft tollte im Park herum. Meine Geburtstagsfeier! – Wir hatten uns einen dieser großen Schlitten beschafft und Max kutschierte uns durch den Park. Einmal wären wir beinahe in den Swimmingpool hineingerutscht … und das holte mich dann wieder zurück. Damals hätte es diesen Swimmingpool nicht gegeben!«
Elise sank in sich zusammen.
»Richard …!« Sie hatte sich erst nach geraumer Zeit wieder gefasst und sie zwang sich, ganz ruhig zu sprechen. »Wie denkst Du Dir das eigentlich?«
»Was, Mama?«
»Richard … Du bist jetzt fast fünfundzwanzig Jahre alt. Du hast keine Freunde … keinen Umgang. Und … was mich besonders betrübt, mein Kind ….. Du hast keine Freundin.«
»Ähm … ja … ich …«
»Richard, wie soll denn das mit Dir weitergehen. Du lebst in einer Welt, die mit der unseren nicht vereinbar ist. Alles, was Du bewunderst, ist seit hundert Jahren nicht mehr … alle Leute, die Dich interessieren, leben nicht mehr. So wie Du Dir Deine Mitmenschen wünschst, gibt es niemanden. Du musst Dich damit abfinden, dass wir 1981 schreiben, mein Kind! – Überlege Dir doch wenigstens einmal, was Du später tun willst. Gott … Du weißt genau, dass es uns –deinem Vater und mir– nicht darum geht, wie viel Du einmal verdienen wirst. Wenn es nach uns ginge, könntest Du Dein Leben lang Deinen Hobbys nachgehen und nie auch nur eine Mark verdienen müssen, um Dich zu ernähren. Aber der Beruf … man braucht einen Beruf in unserer Zeit. Früher einmal … ach, ja, da gab es wohl Sprösslinge aus reichem Haus, die nichts weiter taten, als aufs Erben zu warten. Aber diese Zeit ist vorüber, Richard! – Du brauchst einen Beruf, Du brauchst ihn wirklich –schon deshalb, weil Du durch ihn unter Menschen kommen wirst, mit denen Du Dich zu beschäftigen hast. Von Berufs wegen schon. Heute kannst Du Leute, die Dich nicht interessieren, links liegen lassen. Einmal im Beruf, musst Du Dich auch mit diesen befassen, denn sie werden für Dich unter Umständen Geschäftspartner sein, und wenn es so weit gekommen ist, dass Du Dich nicht mehr gegen Deine Mitmenschen verschließt, dann wirst Du auch begreifen, dass unsere Zeit nicht schlechter ist, als jene, von der Du träumst. Es gibt heute sicherlich genauso viele wertvolle Menschen wie damals. Du musst nur die Augen aufmachen, dann siehst Du sie!«
»Aber …«
»Ja?« Elise sah ihren Sohn erwartungsvoll an – erwartungsvoll … und flehentlich. Oh, wie bereute sie, dass sie sich nie den sonderbaren Wünschen ihres kleinen Richard widersetzt hatte. Wie sehr tadelte sie sich selbst und ihren Mann, dass sie der Entwicklung Richards nie die Weichen gestellt hatten.
»Aber … ich will diese Leute doch gar nicht sehen, Mama! Ich will sie auch nicht kennenlernen!«
Für Elise brach alles zusammen. Nein, es gab kaum Hoffnung, dass sich Richard je ändern würde. Er hätte tatsächlich Menschen finden müssen, die sich in dieser Zeit und dieser Welt von heute ebenso wenig zurechtfanden wie er und deren Gedanken sich mit den seinen im vorigen Jahrhundert treffen würden.
Am Abend bespielte Richard den kostbaren Flügel im Musikzimmer. Die f-moll Sonate von Brahms fesselte ihn nicht lange. Gegen neun Uhr hatte er späte Werke von Liszt in Angriff genommen – gegen zehn Uhr improvisierte er nur noch und gegen elf Uhr saß er träumend auf dem Drehhocker vor dem Flügel und steigerte sich in eine Vision hinein.
›Ich bin der gefeierte Pianist Richard Eckstein. Eben habe ich unter Nikisch das zweite Klavierkonzert von Brahms aufgeführt. Die Berliner Philharmoniker spielten großartig, und im Publikum wurde es schon während des Kopfsatzes unruhig. Noch vor dem Andante brach der Begeisterungssturm los. Drei Tage später bittet mich der Kaiser zu sich. Ich spiele ihm einen Walzer von Chopin und eine unbekannte Sonate vor, die ihn zu großem Lob hinreißt. Er verlangt den Komponisten der Sonate zu erfahren – und ich sage, dass ich es selbst bin!‹
Währenddessen plagten sich seine Eltern mit dem Problem dieses Tages. War es ihnen schon länger aufgefallen, wie weltfremd Richards Dasein sich entwickelt hatte – erst heute schien es ihnen zu dämmern, in welchem Maße sie selbst als die Erzieher dieses jungen Menschen versagt hatten.
»Er muss sich in diese Traumwelt geflüchtet haben«, fand Johannes. »Aber wovor? – Was hätte ihn denn dazu treiben sollen? – Hier im Haus war er ein junger König und in der Stadt brauchte er sich nie vor jemandem zu fürchten. Er sieht blendend aus, ist intelligent … durch uns wohlhabend … was kann es nur sein?«
»Vielleicht hat er einmal etwas erlebt, was ihm sehr nahe gegangen ist. Er mag uns nie was davon erzählt haben«, mutmaßte Elise.
»Wie könnte denn so was geschehen sein? Nein, mein Schatz, das glaube ich einfach nicht.«
»Aber … warum gibt er sich dann so desinteressiert? Ich sehe ihn manchmal im Park und …«, Elise schluchzte auf, »… er spricht dann mit sich selbst. Er imitiert Stimmen, unterhält sich über irgendwas … mit sich selbst! Einmal hab’ ich ihn belauscht, da ging es um einen Börsenkrach!«
»Um einen … Börsenkrach?« Johannes schluckte schwer.
»Vorhin habe ich ihn beim Klavierspiel beobachtet. Er dirigierte … ja, Hans … er dirigierte vom Klavier aus. Und dann erhob er sich und schüttelte einer imaginären Persönlichkeit die Hände, verneigte sich … und wenn er noch geredet hätte … oh, das ist doch furchtbar, Hans! – Unser Sohn wird … verrückt!«
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