»Mann, ich find’s beschissen! – Bin vorhin an der Ecke glatt ausgerutscht. Sauerei so was. Vorige Woche war noch gestreut.«
»Ja? – Ich weiß nicht.«
»Du gehst ja auch nie zu Fuß«, erinnerte ihn Josef.
Die Vorlesung über saß Richard konzentriert auf seinem Platz. Er wagte einen Einwand und wies auf eine von Kierkegaard aufgestellte These hin, mit der sich der Professor gerne beschäftigte. Die allgemeine Diskussion brachte dann allerdings etwas zu viel Schwung in den Saal, und der Nebenmann Richards nützte die Gelegenheit, um sich mit einem Mädchen für den Nachmittag zu verabreden.
»Bei so ’nem Wetter müsste man doch was zur Aufheiterung des Gemüts tun, wie? – Hör mal zu, Sabine … ich hab da ’ne kleine Kneipe ausfindig gemacht. Da gibt’s ganz tollen Glühwein. Haste Lust?«
» Den Glühwein kenn’ ich, Don Juan!«, spöttelte das Mädchen.
»Ah, geh’ zu … das ist ganz ohne Hintergedanken, Du! – Will mich mal mit Dir unterhalten. Oder bin ich Dir sooo unsympathisch?«
»Du bist mir zu direkt, Sepp!«, erklärte Sabine rundheraus. Richard wandte sich zur Seite und lugte seinem Nebenmann über die Schulter. Sabine … er sah sie zum ersten Mal. Oder vielleicht hatte er sie schon öfter gesehen. – Er wusste es nicht mehr. In ihrem verlotterten Aufzug fiel sie ihm jedenfalls auf.
›Wie kann man sich nur so unmöglich kleiden!‹, dachte er sich. ›Diese verwaschenen Jeans und diese Jacke. Schon die Farben harmonieren überhaupt nicht, und dann … wozu behält sie denn die Pelzjacke hier im Saal an.‹
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorne, wo der Professor sein Thema weiter ausführte. Ein junger Mann in der ersten Reihe attackierte ihn hart – Richard war nicht einverstanden damit und übernahm die Verteidigung des Gelehrten.
Etwas später wurde Richard wieder durch das Gespräch, abgelenkt, welches Josef und Sabine führten. Es ging noch immer um den Glühwein. Aus der Reihe hinter ihnen bemerkte jemand, dass ›Sepps Glühwein‹ unübertrefflich sei.
»Kann ich Dir wärmstens empfehlen! – Aber, sieh zu, dass Du ihn nicht auf seiner Bude serviert bekommst. Er hat ’nen Kohleofen, und bis der mal auf Touren ist, biste längst erfroren … trotz Glühwein!«
»Na, Du musst ’s ja wissen!« Josef resignierte und ließ von der ›Neuen‹ ab.
»Sowieso Scheiße! – Hab’ nur noch zehn Mark. Wenn meine Alten nicht bald was schicken, dann könnt ihr mich mal zum Glühwein einladen!«
Einige lachten auf.
»Dann bedanke ich mich mal herzlichst!«, erklärte Sabine.
»Geh’ lieber mit Monsieur Richard!«, schlug ein anderer vor. »In seinem Schloss wirste köstlich bewirtet und währenddessen kannst Du Dir seine Ausführungen anhören. Sehr interessant. Dabei lernste noch was.«
Richard errötete stark. Dass ihn seine Studienkollegen unablässig hänselten, störte ihn längst nicht mehr, aber der Blick Sabines verwirrte ihn und ihr helles Lachen behagte ihm gar nicht.
»Na, nimm’ die Gelegenheit wahr, alter Junge!« Josef klopfte ihm auf die Schulter. »Oder willste lieber mir ’nen Glühwein spendieren. Ich sag’ nicht Nein.«
Richard biss die Zähne aufeinander und starrte nach vorne.
›Gestern habe ich die Noten zur f-moll Sonate von Brahms entdeckt. Wenn ich bedenke, dass ich kaum die ersten Takte des Kopfsatzes spielen konnte und jetzt hier meine Zeit vertue …!‹
Endlich endete die Vorlesung. Der Saal leerte sich rasch und Richard ging neben Josef den Gang entlang.
»Was machste jetzt?«, wollte der wissen.
»Mein Chauffeur kommt um eins. Ich habe mich verrechnet – dachte, dass ich nicht lange auf ihn warten würde müssen.«
»Und?«
»Ich werde mich ins Café setzen … wie immer, wenn ich hier festgenagelt bin«, erwiderte Richard.
»Na – dann viel Spaß. Ich frag’ Dich gar nicht erst, ob Du mit zu Jim kommst. – Bis morgen!«
Richard verließ das Gebäude alleine. Auf den Straßen lag Schneematsch, und es hatte zu regnen begonnen. Angeekelt klappte er den Kragen seines Mantels hoch und eilte hinüber in das kleine Café, welches er aufzusuchen pflegte, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Im Sommer spazierte er manchmal die Leopoldstraße hinauf und hinunter – bei diesem Wetter ließ sich damit die Zeit nicht gut totschlagen.
Sein Platz in der Ecke bei dem großen Gummibaum war noch unbesetzt. Er bestellte sich einen Kaffee mit Cognac und steckte sich eine Zigarette an.
Da saß er also wieder einmal und musste sich eine knappe Stunde in dieser nicht sehr anheimelnden Atmosphäre zu vertrösten suchen. In seiner Aktentasche fand er einen Band mit Gedichten Heinrich Heines, dem er sich jetzt widmete.
»Du … haste mal Feuer für mich?«, fragte ihn schließlich jemand, und als er von seinem Buch aufsah, lächelte ihn ein hübsches Gesicht an. Er hatte gar nicht bemerkt, dass zwei Mädchen an seinem Tisch Platz genommen hatten – und er wunderte sich auch nicht darüber. Um die Mittagszeit wurde es in diesem Café regelmäßig sehr voll und da blieb niemand alleine an einem Tisch. Jeder Stuhl wurde gebraucht. Die Serviererinnen flitzten herum, es war laut. Unterhaltungen, Gläsergeklirr, Tellergeschepper … Richard entnahm der kleinen Brusttasche seines Gilets das goldene Feuerzeug, mit dem sein Großvater sich einst seine Zigarren angezündet hatte und befriedigte den Wunsch des Mädchens. Rasch vertiefte er sich anschließend wieder in Heines Verse. Die Atmosphäre des Studenten-Cafés wurde ihm mit jedem Mal, da er in sie eintauchte, mehr zuwider.
»Biste nicht einer von den Philosophen?«, erkundigte sich die Raucherin jetzt bei ihm. Richard ließ sein Buch sinken und musste sich erst vom Eindruck lösen, den ein Gedicht auf ihn gemacht hatte.
»Ich …«
»Na klar … Du kennst bestimmt einen Josef! – Sepp vielmehr.«
»Ja … einer meiner Kommilitonen heißt zumindest so«, gab er zur Auskunft.
Das Mädchen setzte sich zurecht und es wirkte, als wollte sie ihn in ein längeres Gespräch ziehen. Eiligst senkte er den Blick wieder auf die Seiten des Buches und las angestrengt weiter.
Achselzuckend wandte sich die Raucherin ihrer Freundin zu.
»Trübe Tasse!«, murmelte die. »Hab’ ich Dir gleich gesagt.«
»Na ja.«
Die beiden Mädchen unterhielten sich jetzt über einen Film, der in einem kleinen Kino in Schwabing gegeben wurde, und ihre aufdringlich hellen Stimmen störten Richard.
›Damals hätten sich junge Damen dezenter unterhalten … abgesehen davon, dass sie wahrscheinlich schon schlecht angesehen gewesen wären, sich an den Tisch eines fremden Mannes zu setzen. Man hätte sie für leichtlebig gehalten. Das Café war den Männern vorbehalten … oder doch den Paaren. Ach …!‹
Er klappte den Band Heine zu und lehnte sich zurück.
Erstaunt stellte er fest, dass ihn die beiden Mädchen musterten. Das war ihm äußerst unangenehm. Er vertrug es schon nicht, wenn ihn Männer auffällig ansahen … wenn es dann noch Frauen waren …! – Eine Hitzewelle überflog ihn.
Kurz darauf nahm er seinen Mantel vom Garderobenhaken. Dabei musste er mit anhören, wie die Raucherin ihrer Freundin erklärte:
»Aber toll angezogen. So was siehste heut’ kaum mehr. Erinnert mich richtig an so ’nen Film, den ich mal gesehen hab’.«
»Mich hat der Typ eher an Fasching erinnert. Vielleicht meint er, dass er Kaiser Wilhelm ist … oder so ein Adjutant vielleicht.«
Ihr böses Lachen vertrieb Richard endgültig.
Seine Kleidung – schon die Eltern hatten ihm genug Szenen gemacht.
›So läuft heutzutage kein Mensch mehr herum, Richard! Wenn Du in diesem Aufzug auf die Straße gehst, dann wird man über Dich lachen … und über mich dazu!‹
›Zumindest in der Stadt solltest Du Dich kleiden wie alle! – Gut, Du kannst Dich ja von unserem Schneider einkleiden lassen … aber doch nicht in solche Kostüme! – Das ist doch Clownerie!‹
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