„Schließen Sie die Tür, Ray“, sagte sie und ging zum Schreibtisch hinüber.
Neben dem Eingang hing eine große, vergilbte Landkarte. Red Hills stand in der Legende. Ray studierte sie aufmerksam.
„Ein Teil davon gehört uns.“
Er nickte und besah sich die Aufnahmen. Schwarzweiße Erinnerungen, manche abgegriffen und zerknickt. Es waren etliche von ihm darunter, alle aus seiner Zeit als Soldat. Ray allein, gemeinsam mit Jasper Reed oder anderen Kameraden. Ein Bild von ihm kurz nach seiner Verwundung, sein Körper eingehüllt in weiße Laken, eine Flasche Schnaps auf dem Nachttisch neben dem Krankenhausbett. Die anderen Bilder zeigten zumeist Jasper, als Jäger oder mit Fremden. Gelegentlich ein Photo von Eve Reed, einer hübschen, dunkelhaarigen Person. An fünf Stellen zeichneten sich jedoch nur die Umrisse der Bilderrahmen an der Wand ab. Jemand hatte sie fortgenommen.
Ira stand mit einem Mal neben ihm, ihre Schulter streifte seinen Arm und ihr Duft stieg ihm wieder entgegen. „Jasper hat große Stücke auf Sie gehalten.“
„Ich nicht weniger von ihm. Hätten wir ihn nicht zurückgehalten, dann hätte er die Deutschen im Alleingang aufgerieben.“
Sie schluckte. „Zum Schluss nicht mehr.“
Ray schwieg betreten, den Blick auf die Photographien gerichtet, ohne sie zu sehen. „Es tut mir leid, Ira. Ich wünschte, ich hätte bei ihm sein können.“
Ihre Schultern zuckten, als würde sie weinen, aber ihre Augen blieben trocken. „Es war besser so. Sie hätten ihm auch nicht helfen können. Niemand konnte das. Dem Krebs war es egal, dass er ein Kriegsheld war.“
„Er war für mich da, als ich beinahe gestorben wäre. Es wäre das Mindeste gewesen, in seinen letzten Stunden bei ihm zu sein.“
Sie schüttelte den Kopf. „Machen Sie sich keine Vorwürfe, Ray. Jasper war so stolz, er hätte nicht gewollt, dass Sie ihn so sehen.“
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Impuls, sie zu umarmen, durchzuckte ihn. Aber er schaffte es nicht, die Arme zu heben, sie hingen schlaff an seiner Seite. „Ich war an seinem Grab auf dem Veteranenfriedhof in Fort Riley, bevor ich herkam.“
Ira zuckte die Schultern: „Ich war seit der Beerdigung nicht mehr da. Es ist nur ein dummes Holzkreuz und hat nichts mit ihm zu tun.“ Ihre Hand berührte eine Aufnahme, strich nachdenklich über das Glas. „Dieses Bild hat er geliebt.“
„Das war Ende ’46 in Paris. Sehen Sie, dort hinten kann man ein Stück vom Eiffelturm erkennen.“ Jasper, ein kräftiger Mann mit einem fröhlichen Gesicht, in der Uniform eines Oberst, und Ray, einige Jahre jünger als sein Freund, ein lachender Sergeant, posierten Arm in Arm vor einem kleinen Laden. Jeder von beiden hielt zwei Weinflaschen in den Händen, weitere standen auf den Pflastersteinen vor ihnen. „Wir sollten ein deutsches Waffenlager ausheben, aber unser Informant hatte sich geirrt. Statt auf die Waffen, stießen wir auf einen zugemauerten Keller voller Weinflaschen. Es wurde ein ziemlich feuchter Abend für unsere Truppe.“
Ira lachte leise und die trübe Stimmung war verschwunden. „Jasper meinte, Sie hätten einen Großteil des Fundes im Alleingang vernichtet.“
Ray wedelte abwehrend mit den Händen: „Vielleicht. Ich kann mich an den Ausgang der Nacht nicht mehr erinnern. Aber Jasper war nicht der Typ, der sich seinen Beuteanteil entgehen ließ.“
Sie gingen zum Schreibtisch hinüber, auf dem Landkarten und Papiere lagen. Ira blieb neben ihm und sah ihn lange an. „Danke, dass Sie gekommen sind, Ray.“ Er hielt ihren Blick in seinem. „Ich wüsste nicht, wer uns ansonsten hätte helfen können.“
„Ich schulde es Jasper. Und auch wenn es nicht so wäre, bin ich froh, gekommen zu sein.“
Ein zaghaftes Lächeln strich über ihr Gesicht. „Meinen Sie, wir haben eine Chance?“
Er zuckte die Schultern: „Ich muss erst die Karten sehen, das Land und dann ein paar Gesteinsproben nehmen, ehe ich etwas sagen kann.“
„Jasper war sich sicher.“
„Er hatte immer einen guten Riecher, was Geschäfte anging, vielleicht hat er sich nicht getäuscht.“
„Die Karten sind hier, in den Schubladen sind noch mehr. Er hat in den letzten Monaten alles zusammengesucht, was er auftreiben konnte. Er wusste, dass Sie kommen würden.“
„In Ordnung. Ich werde sie mir morgen ansehen.“
„Und dann fahren wir raus.“
Er nickte.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Gästezimmer, Ray.“ Gemeinsam gingen sie nach oben, die Helligkeit war bereits aus dem Haus verschwunden. „Es ist schrecklich spät“, sagte Ira und ging vor ihm die Treppe hinauf. Langsam, geschmeidig.
„Da ist mein Zimmer, direkt neben Ihrem, Ray. Und gegenüber das von Cora.“ Sie führte ihn den Flur entlang. Hellblaue Tapete, gleichfarbige, weiche Teppiche und die Flugstudien von Wildvögeln an den Wänden. „Hier.“ Sie öffnete die Tür in ein großes Zimmer. An der Wand stand ein Doppelbett, gegenüber davon ein wuchtiger Schrank aus dunklem Holz. Ein rostroter Teppich und kleine Landschaftsbilder in verzierten Rahmen rundeten das Ambiente ab. „Ist es in Ordnung?“, fragte Ira.
Ray trat an ihr vorbei, streifte ihren Duft und sah sich kurz um. „Ja, ausgezeichnet.“
Sein Gepäck stand vor dem Bett.
„Schlafen Sie gut, Ray.“ Sie lächelte ihn an, ehe sie die Tür schloss.
„Sie auch, Ira.“
Dann war er allein und lauschte auf ihre sich entfernenden Schritte. Ohne Licht zu machen, entpackte er seine Reisetasche und sortierte die Habseligkeiten im Schrank ein. Als letztes zog er ein sorgsam verschnürtes Bündel hervor.
Er trat ans Fenster und blickte hinaus, während er langsam, ohne hinzusehen, die Schnür löste und das Tuch auseinander schlug. Zwischen dem weißen, mit Ölflecken verunzierten Stoff schimmerte das mattdunkle Metall eines Revolvers. Es war eine große, schwere Waffe, die er einen Augenblick lang in der Hand wog, um sie dann wieder ins Tuch einzuwickeln. Das verschnürte Bündel verbarg er sorgfältig auf dem Schrank.
Dann zog er sich aus und legte sich schlafen.
„Guten Morgen, Ray. Setzen Sie sich, frühstücken Sie mit mir.“ Das Esszimmer war hell und weitläufig. Die Tapete trug einen kaum merklichen Gelbton zur Schau. Vor den hohen Fenstern hingen mit Spitze besetzte Gardinen. Über einer kleinen Teakholzkommode protzte ein wuchtiges Landschaftsgemälde mit seinen herbstlichen Farben, kleinere Geschwister von ihm verzierten den Rest der Wände. Herzstück des Zimmers war eine lange Tafel, auf der silberne Kännchen und Schälchen neben weißem Geschirr standen. In einer Nische führte ein Durchgang zur Küche, aus der leiser Lärm zu hören war.
Tony Hull saß allein am Tisch, einen Teller mit belegten Broten und Rührei vor sich, eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand. Sein Gesicht hatte wieder Farbe gewonnen und sein Mund unter dem dünnen Bart lächelte zufrieden. Er trug eine helle Hose, ein weißes Hemd und einen mit blassbraunen Karos verzierten Pullunder. Seine braunen Schuhe waren auf Hochglanz poliert. „Setzen Sie sich wohin Sie wollen. Penny wird Ihnen gleich Ei bringen. Trinken Sie Kaffee, Ray?“
Ray nahm schräg gegenüber von Tony Platz. Während der andere ihm Kaffee in eine zerbrechliche Tasse eingoss, tauchte aus der Küche ein blasses, kantiges Mädchen auf, gekleidet in ein schwarzes Kleid und eine weiße Schürze. Sie lächelte unbeteiligt und schaufelte ihm Rührei auf den Teller. Dann rückte sie ihm Butterschale und Brotkorb zurecht und verschwand wieder in die Küche.
„Die gute Seele des Hauses. Sie hilft Ira im Haushalt“, erklärte Tony und schob sich eine Gabel voll Ei in den Mund.
Ray begann langsam zu essen. „Mit Ihrem Magen wieder alles in Ordnung?“
Hull lächelte und klopfte sich mit der Hand auf den Bauch. „Ja, nichts, was ein paar Stunden Schlaf nicht kurieren konnten. Sie sind mir doch nicht böse wegen gestern Nacht?“
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