Myron Bünnagel - Severin
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Myron Bünnagel
Severin
Eine kognitive Dissonanz
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Myron Bünnagel Severin Eine kognitive Dissonanz Dieses ebook wurde erstellt bei
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Impressum neobooks
I.
Für einige Augenblicke war da nur ein klaustrophobisches Gefühl. Festes Halbdunkel und angedeutete Gitter darin. Dann setzte die Bewegung ein, schickte ein Zittern durch den Boden. Der Ruck zog seinen Magen in die Tiefe. Irgendwo über ihm klagte Metall, übertönte das leise Motordröhnen. Es ging aufwärts, langsam und vibrierend, die Dunkelheit angefüllt mit einem mechanischen Ächzen und Stöhnen. Jacob Severin starrte in die Schwärze, dorthin, wo er seine Füße vermutete. In seinem Kopf pochte es dumpf, ein Laut, den nur er selbst hören konnte. Ein monotoner Takt, der ihm den Schweiß aus dem Körper trieb. Der Kragen seines Hemdes schien zu eng, die Krawatte lag wie eine Schlinge um seinen Hals. Unter den Armen spürte er brennende Feuchtigkeit.
Dünne Lichtfäden fraßen Holzlatten aus dem Halbdunkel, entblößten den zerkratzten Untergrund, das glänzende Leder seiner Schuhe. Sie erstarkten, drangen nun in dichten Bahnen von ihrem grellen Glühbirnenzentrum herein. Obwohl Jacob sie erwartet hatte, stach ihn das Licht in die Augen. Nadeln punktierten schmerzende Stellen in seinem Schädel. Sein Blick haftete auf dem Schatten, der da unförmig aus ihm herauswuchs. Eine schwarze Karikatur seiner selbst, mehr und mehr in die Länge gezogen, während sie an der künstlichen Sonne vorbei weiter hinauf glitten. An seinem längsten Punkt stieß der groteske Jacob mit zwei weiteren Schatten zusammen. Ihre Köpfe verwuchsen für wenige Sekunden miteinander, verschmolzen zu einem abstoßenden Dreileiberhybriden, ehe sie das entfliehende Licht wieder auseinander riss, klein schrumpfte und in der Dunkelheit zwischen den Stockwerken verbarg. Sein Mund fühlte sich ausgetrocknet und taub an, in seinen Augen brannte es. Als das Licht das nächste Mal begann, die Geheimnisse hervorzuzerren, starrte er auf die groben Querstangen vor sich. Aus den Augenwinkeln sah er die beiden Männer. Klobige Umrisse, denen er keine Bedeutung beimessen konnte. Obwohl sie nicht direkt hinter ihm standen, fühlte er sich von ihnen bedrängt, mischte sich ihre Nähe mit dem würgenden Gefühl in seinem Hals.
Nicht viel, und Jacob hätte aufgegeben, keine Anstrengung mehr unternommen, auf den Beinen zu bleiben oder die Augen offen zu halten. Mit jedem Millimeter, den sie nach oben glitten, verlor er an Kraft. Schweiß perlte auf seiner Stirn, rann ihm über Brauen und Schläfen, sickerte den Hals hinab.
Mit einem leisen Rumpeln kam die Welt zum Stillstand, erstarb der mechanische Lärm um ihn herum. Einige Momente herrschte völlige Stille, als hätte sich eine wohltuende Taubheit in seinen Ohren eingenistet. Jacob schloss die Augen, sperrte das schmerzende Licht aus. Er trieb für Bruchteile eines Augenblicks in diesem erlösenden Nichts. Dann vernahm er das Atmen der Männer und kehrte mit einem Lidschlag ins Innere des alten Lastenaufzuges zurück. Das Gefühl der Schwäche, des Aufgebens, war verschwunden. Er fühlte sich noch immer ausgelaugt, aber gleichzeitig fähig, sich umzuwenden. Synchron zu seiner Bewegung vollführten auch die beiden Männer eine Drehung. Jacob starrte auf ihre Rücken. Der Größere zog das Gitter mit einem Ruck in die Höhe. Er war groß, größer als Severin selbst, der sich für gut gewachsen und kräftig hielt. Muskulöse Arme, ein breites Kreuz und dunkles Lockenhaar, das über den Kragen eines tiefblauen Anzuges quoll. Das Gittertor rasselte nach oben, brachte den Aufzug durch seinen Aufprall zum Zittern.
Der andere Mann war kleiner, gedrungener, etwa so groß wie Jacob selbst. Der Ansatz kurzer pechschwarzer Haare war in seinem Nacken zu sehen. Er trug einen Frack und einen samtenen Turban auf dem Kopf. Seine Haltung war sehr aufrecht, die Brust weit rausgedrückt, die Arme davor verschränkt.
Gleichzeitig setzten sich die beiden Fremden in Bewegung, traten bestimmten Schrittes hinaus in den langen Flur. Eine nackte, grelle Glühbirne baumelte von der Decke, verbreitete knöcherne Helligkeit. Dunkle Backsteinmauern, vom Alter geschwärzt, ein grauer, sauberer Linoleumboden. In der Wand eine Tür, grau lackiertes Metall. Den Gang hinauf und hinunter siegte bald die Dunkelheit, hinterließ nur eine Ahnung weiterer Eingänge.
Jacob folgte den beiden, während er sich zu erinnern suchte, wer sie waren, warum er bei ihnen war und wo sie waren. Aber da gab es keine Antworten, nur einen unerträglichen Druck in seinem Schädel. Sie blieben vor der Feuerschutztür stehen. Neben ihr stand ein kleines Tischchen mit einer gläsernen Vase darauf. Drei Rosen darin, eine weiße, eine schwarze und eine vertrocknete zwischen ihnen, deren Farbe nicht mehr zu erkennen war. Ihr Anblick beunruhigte Jacob. Ein Anflug von Panik wallte in ihm auf. Der Geschmack von Blut lag ihm auf der Zunge, sein Puls begann in seinen Ohren zu rasen. Der Flur geriet ins Wanken, kippte erst in einem Bogen nach links, dann nach rechts, die nackte Birne der Drehpunkt. Übelkeit kroch seinen Hals hinauf, nistete sich in seinem Rachen ein. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, rückte die schwankende Welt gerade. Die Panik ebbte ebenso schnell ab, wie sie gekommen war. Finger drückten sich auffordernd in seine Schulter und Jacob hob den Blick. Er sah zur Seite, schaute in ein Gesicht, das zwischen Turban und dichtem Krausbart nur helle, blaue Augen zu besitzen schien. Klare Augen, die im grellen Licht funkelten, denen etwas Zwingendes anhaftete. Der Bärtige nickte in Richtung der Tür und Severin wandte sich langsam um, tat einen zögerlichen Schritt vorwärts, hob seine Hand und ballte sie zur Faust, um kräftig gegen das Metall zu schlagen. Einmal, ein weiteres Mal. Der hohle Laut hallte geisterhaft durch den Flur.
Sie warteten. Jacob ließ die Hand sinken. Seine Zunge glitt unruhig über seine aufgesprungenen Lippen. Als sich endlich die Tür öffnete, atmete er erleichtert aus. Eine tiefrote Stofftapete rückte in sein Blickfeld, dann eine Frau. Sie war Mitte Fünfzig mit einem stark geschminkten Gesicht, auf dem sich Falten eingegraben hatten. Ihre Lippen glänzten in einem feuchten Rot, die Lider schimmerten blau, ebenso die klobigen, eckigen Kristallohrringe. Ihr blondes Lockenhaar ging bis zu ihren bloßen, glatten Schultern. Sie trug ein blaues Kleid, dessen Freizügigkeit nicht mehr zu ihrer verlorenen Jugend passte. An ihrer Hand glitzerte ein Ring mit einem weiteren Kristall. Sie schaute ihn mit einem Anflug von Überraschung in den Augen an: „Hallo, Jacob.“
„Hallo, Mutter.“ Seine Stimme ebenso überrascht, ein wenig unsicher. Er sah sich Hilfe suchend um, bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Sich an den Flur zu erinnern, daran, dass er schon einmal hier gewesen sein musste. Aber die Erinnerungen lagen noch immer unter einem erstickenden Schleier.
Sie öffnete die Tür, ließ eine aromatische Wärme in den Gang dringen. „Und du hast Freunde mitgebracht.“ Sie musterte die beiden Männer, war zufrieden mit dem, was sie sah und trat zur Seite, den Rücken durchgedrückt. „Immer herein. Jacobs Freunde sind auch meine Freunde.“ Sie lächelte und klimperte dabei mit den Lidern.
„Mutter, ich …“, setzte er verzweifelt an, aber sie zuckte nur die Schultern: „Schon in Ordnung, Jacob. Es ist nur, … ach, sieh selbst.“ Damit forderte sie ihn auf, einzutreten. Er ging den beiden anderen voran, vorbei an seiner Mutter, hinein in den dezent erleuchteten Flur. Rot war die vorherrschende Farbe. Die Wände, der Teppich, selbst der Rahmen des hohen Spiegels neben einer offen stehenden Tür. Jacob kam an einem mit Gold und Porzellan überfrachteten Badezimmer vorbei, die Ablage über dem Waschbecken voller Parfümfläschchen. Die Luft war hier warm und süß, führte die Nuancen von fremdländischen Speisen und Räucherstäbchen mit sich. Der Flur öffnete sich in ein großflächiges Wohnzimmer. Heller Kerzenschein schwängerte den Raum mit seiner Hitze, machte die Luft schwer und träge. Im Zentrum stand eine enorme Tafel mit Stühlen darum. An den roten Wänden hingen Ölgemälde mit Szenen aus einem freizügigen, orientalischen Harem. Nackte Sklavinnen, vorangetrieben von muskulösen Wächtern, ergeben in den Armen eines dünnbärtigen Edelmannes. Von einem Beistelltisch, auf dem kleine Schälchen und die goldene Figur einer dreiköpfigen Gottheit arrangiert waren, stiegen Rauchfäden auf, mischten ihren Duft unter die Hitze der Kerzen, die überall verteilt standen.
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