Ich holte tief Atem, als wollte ich mich in einen reißenden Fluss stürzen, um das andere Ufer zu erreichen. »Ich will wissen, wer mein Vater ist.«
» Dafür opferst du ein Schaf?«, fragte der Schamane. Sein Gesicht leuchtete im Schein des Feuers.
»Ich will es wissen!«, sagte ich eigensinnig.
»Wozu?«
Ich starrte ihn an. Ja, wozu eigentlich? Weil ich es wissen wollte! Jeder Mensch will wissen, woher er kommt. Und wohin er geht.
Wie wäre mein Schicksal verlaufen, wenn ich diese eine Frage nicht gestellt hätte? Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn ich der Sohn von irgendjemand anders gewesen wäre?
Kökschu warf kopfschüttelnd das Schulterblatt in das Feuer. Der glühende Knochen knackte leise. Hin und wieder stiegen Funken aus der Glut. Gemeinsam warteten wir, bis sich die ersten Sprünge im Schulterblatt zeigten, die durch die Hitze des Feuers entstanden.
»Könnt Ihr erkennen, wer mein Vater ist?«, fragte ich.
Kökschu starrte auf den Schulterknochen. Dann stocherte er mit einem Stock in der Glut herum, um den Knochen umzudrehen. Aber die Rückseite sah nicht anders aus als die Vorderseite.
»Was seht Ihr?«, drängte ich ungeduldig.
»Ich sehe, dass dein Vater ein mächtiger Mann ist.«
»Was heißt: mächtig? Ein Schamane? Ein Beki? Ein Noyan? Ein Khan?«
»Der mächtigste Mann der Welt«, unterbrach mich Kökschu.
»Aber wer ist es?« Das Nachgeben war nie eine meiner Stärken gewesen.
»Ich kann es dir nicht sagen, Temur. Noch nicht.«, murmelte Kökschu möglichst undeutlich. Er holte das glühende Schulterblatt aus dem Feuer und zerschlug es. »Kennst du die Prophezeiung?«, fragte er in mein enttäuschtes Schweigen hinein.
Ich sah ihn unsicher an. »Welche ...?«
»Hat deine Mutter nicht mit dir darüber gesprochen?«, fragte er erstaunt. »Über die Nacht deiner Geburt?«
»Nein, hat sie nicht.«
Kökschu zögerte. Er schien über die Entscheidung meiner Mutter, mich über mein vorherbestimmtes Schicksal im Unklaren zu lassen, nachzudenken. Dann schüttelte er den Kopf und sagte:
»Geboren wurdest du im Jahr des Feuerpferdes (1186), in einer kalten Winternacht. Ich hatte prophezeit, dass du deinem Vater auf allen seinen Wegen nachfolgen wirst, bis auf einen. Du wirst das Land jenseits des Horizontes erreichen und von dort zurückkehren. Niemand kann dich in deinem langen Ritt an die eigenen Grenzen aufhalten.« Er atmete durch die Nase aus. »Du hättest das Gesicht deiner Mutter sehen sollen! Bleich wie der Weißmond ist sie geworden. Aber nicht wegen der stundenlangen Wehen, sondern wegen dieser Prophezeiung.«
»Und diese geheimnisvolle Weissagung wird eintreten?« Ich bemühte mich um einen möglichst provozierenden Tonfall.
»Natürlich! Meine Prophezeiungen treten immer ein. Immer! «, erklärte der Schamane herablassend.
»Seht Ihr, Kökschu. Ihr müsst mir sagen, wer mein Vater ist. Wie soll ich ihm sonst nachfolgen? Wenn Ihr es mir nicht sagt, wird Eure Prophezeiung nicht in Erfüllung gehen«, triumphierte ich.
Kökschu kam mir keinen Fingerbreit entgegen. »Sie wird! Verlass dich drauf, Temur!«
Während des dritten Sommermondes begann die Jagd auf die Murmeltiere. Jesutai und ich begleiteten die Männer. Wir ritten über eine Stunde in Richtung Sonnenuntergang, bis wir auf ein Labyrinth von tiefen Schluchten stießen. Toda und Kökschus Vater Munlik stritten sich wie so oft. Meine Mutter hatte mir erzählt, wie Toda die Wahl zum Fürsten mit nur wenigen Stimmen Vorsprung vor Munlik gewonnen hatte. Toda Beki und Munlik stritten sich über alles und nichts, über Wichtiges und Unwichtiges, über schamanische Riten, über die Weidegründe und den Termin des Lagerumzuges, sogar über das Wetter.
Wir ließen die Pferde zurück, stiegen eine Schlucht hinauf und verteilten uns zwischen den Felsen, als wollten wir den Nagern einen Hinterhalt legen.
Munlik zog mich mit sich fort auf einen Felsen oberhalb des Eingangs zur Schlucht. Wir lagen nebeneinander auf dem sonnenwarmen Stein und beobachteten den mit Edelweiß besprenkelten Hang unter uns, auf dem, wie wir hofften, bald die Murmeltiere erscheinen würden.
Wir lagen wohl über eine Stunde in unserem Versteck, als sich das erste Murmeltier zeigte. Es kam aus seinem Bau hervor, richtete sich auf und spähte in die Runde. Kein Feind war zu sehen, keiner zu riechen. Wir lagen bergauf gegen den Wind. Ich reichte Munlik den ersten Pfeil. Aber er wollte noch warten und schüttelte den Kopf. Ein zweites Tier erschien und entfernte sich einige Armlängen von dem Erdloch. Dann ein drittes und ein viertes. Wenige Minuten später wimmelte der ganze Hang von Murmeltieren.
Die Pferde, die hinter uns in der Nähe einer steilen Felswand angebunden waren, waren unruhig. Ihr Wiehern drohte unsere Jagdbeute zu verscheuchen. Ich gab Munlik ein Zeichen, dass ich zu den Pferden zurückkriechen wollte, um nachzusehen, was die Tiere erregte. Er nickte, ohne den Blick von den Murmeltieren zu wenden.
Die Pferde waren an einem verdorrten Baum festgebunden und tänzelten unruhig wiehernd hin und her. Irgend etwas machte ihnen Angst. Ich schlich lautlos näher, aber ich konnte nichts erkennen. Die Tiere sahen in meine Richtung und rissen an ihren Zügeln, konnten sich aber nicht befreien.
Ich wandte den Kopf. Mein Blut wurde so kalt wie ein Fluss im Winter, bevor sich die ellendicke Eisschicht bildet. Der Wolf war ebenso überrascht wie ich. Er stand sprungbereit auf einem Felsen oberhalb meiner rechten Schulter. Keiner von uns wagte den Rückzug, jeder verharrte unbeweglich in seiner Stellung. Ich spürte die Angst des Tieres, seine Unbeweglichkeit, seine innere Unruhe, seine Panik. Konnte es auch meine Gedanken lesen? Ich bohrte meinen Blick in die gelbgrauen Augen des Wolfes. Und plötzlich konnte ich spüren, wie man sich fühlt, wenn man in die Enge getrieben wird. Ich hatte Angst.
Der Wolf zog die Lefzen hoch und zeigte mir seine Zähne. Wie sollte ich reagieren? Auch ich öffnete die Lippen und zeigte ihm meine Zähne. Der Wolf senkte seinen Kopf, als wollte er auf mich losstürmen. Auch ich senkte meinen Kopf und schwenkte ihn langsam von einer Seite auf die andere. Was sollte ich sonst tun? Der Wolf begann zu knurren. Auch ich knurrte. Es klang hysterisch schrill und gar nicht gefährlich.
Ob die anderen mich hörten? Ich konnte nur abwarten. Sobald ich mich umdrehte, würde der Wolf angreifen. Sobald ich die Männer rief, würde das gleiche passieren. Der Wolf befand sich nicht einmal zwei Armlängen von mir entfernt und versuchte mich mit seinen Augen zu bannen. Seine Muskeln vibrierten vor Anspannung unter dem silbrigen Sommerfell.
Dann hörte ich ein Geräusch hinter mir. Der Blick des Wolfes ging von mir zu demjenigen, der sich mir langsam und vorsichtig von hinten näherte. »Beweg dich nicht!«, flüsterte Munlik einige Schritte hinter mir.
Ich hörte das leise Zischen, als er einen Pfeil aus dem Köcher holte und ihn auf die Sehne seines Bogens legte. Ich hörte das leise Knarren des Langbogens, als er die Sehne zurückzog, um den Bogen zu spannen. Ich ließ den Blick nicht von dem Tier.
Dann hatte der Wolf seine Entscheidung getroffen. Den Rückzug konnte er nicht antreten, ohne durch einen Pfeil getroffen zu werden. Also wagte er den Frontalangriff, eine Strategie, die ich selbst immer wieder erfolgreich anwenden würde. Ich hatte beide Arme erhoben, um mein Gesicht und meine Kehle vor seinen Zähnen zu schützen. Die Wucht seines Angriffs hatte mich umgeworfen und ich lag nun auf dem Rücken, der schwächsten Ringerposition, die man sich vorstellen kann. Der Wolf ragte über mir auf. Seine Pfoten lagen auf meiner Brust, und raubten mir den Atem, seine Zähne schnappten nach meinen Armen. Mein Herzschlag war so laut wie die Hufe einer galoppierenden Pferdeherde. Mit einer Hand versuchte ich, seine Schnauze von mir fernzuhalten, ihm an die Kehle zu gehen. Die andere tastete nach meinem Dolch. Aber ich konnte ihn nicht erreichen.
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