Ich zerreiße die Landkarte, das mongolische Reich und den Willen des Khakhan in kleine Stücke, die der Wind über die Steppe weht. Mein Blick folgt den Fetzen bis zum Horizont.
Meine Gedanken folgen ihnen. In eine andere Welt. In eine andere Zeit. Nein, ich bin noch nicht zurückgekehrt aus dem Land jenseits des Horizontes. Ich bin getrennt von meiner eigenen Vergangenheit. Ich muss ganz von vorne anfangen.
Ich und der Vater sind eins.
Ich und der Vater sind eins.
(Jesus)
Bittet, und es wird euch gegeben.
Sucht, und ihr werdet finden.
(Jesus)
Was der Mensch nicht begreift, macht ihm Angst. Ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Ich hätte meinen Freund Jesutai bitten sollen, mich zu begleiten. Und doch ging ich weiter. Denn stärker als die Angst ist die Neugier eines Fünfjährigen. Ich tastete mich vorsichtig Schritt für Schritt vorwärts, als ob ich Honigwaben aus einem Bienenstock stehlen wollte, ohne die Bienen aufzuscheuchen. Wie ich vor angriffslustigen Bienen gegen den Wind flüchten konnte, wusste ich. Aber was tat ich angesichts eines zornigen Schamanen, der über mächtige Geister gebot?
Kökschu hatte in diesem Jahr seine sechste Schamanenweihe gefeiert. Trotz seiner hoch geschätzten Fähigkeiten als Heiler und Seher, trotz seines Ansehens galt er als verrückter Sonderling, der seine Jurte am Rand des Lagers errichtete.
Kökschu hatte keine Hunde, die sein Zelt bewachten. Kein Bellen und kein wütendes Knurren kündigte ihm meinen Besuch an. Ich hob vorsichtig den Türfilz hoch und trat in die Jurte. Wenn ich erwartet hatte, von mindestens einem Geist erschreckt zu werden, wurde ich enttäuscht. Im Inneren war es so finster wie in einer sternenklaren Schwarzmondnacht. Und heiß. Die Hitze nahm mir den Atem. Oder war es meine Angst? Kökschu hatte das Himmelstuch über den Dachkranz gezogen. Das Herdfeuer war nur noch ein Haufen glühender Asche, der Rauch von Wiesenkräutern und Birkenholzstückchen stieg wie silberner Morgennebel zum verhängten Dachkranz der Jurte hinauf.
In dieser Dunkelheit konnte ich die Geister fast sehen .
Kökschu saß auf einer Filzdecke am Feuer. Er trug das Vogelgewand eines Schamanen mit bunten Seidenbändern, Adlerfedern und geflochtenem Pferdehaar. Sein Gesicht wurde von den dichten schwarzen Fransen seiner Kopfbedeckung verdeckt. Neben ihm lag die Schamanentrommel.
Ich ging zwei Schritte auf ihn zu, aber er sah nicht auf. »Kökschu?«
Der Schamane reagierte nicht. Seine eisblauen Augen waren hinter den schwarzen Fransen geschlossen. Sein Mund war leicht geöffnet. War er eingeschlafen? Ich betrachtete die umgekippte Trinkschale neben ihm. War er betrunken?
Ich kniete mich neben ihn und legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu wecken. Nichts. Die Fransen vor seinem Gesicht bewegten sich nicht im Hauch des Atmens. Lebte er noch?
In diesem Augenblick begann Kökschu seinen Körper zu einer unhörbaren Musik vor und zurück zu wiegen. Die Stille im Zelt war beinahe überirdisch, bis Laute aus seinem Mund tropften, die keiner menschlichen Sprache angehörten, und ein grauenhaftes Stöhnen, als erleide Kökschu einen furchtbaren Schmerz.
Ich überlegte, ob ich verschwinden sollte. Kökschu würde wütend sein, wenn ich seine stille Unterredung mit dem Himmelsgott störte. Und ich wusste, was geschehen konnte, wenn ein Schamane, der über Blitz und Donner, Hagel und Sturm gebot, zornig war. Das war ungefähr so, als wenn der Himmelsgott Tenger selbst erzürnt war. Nur gefährlicher!
Ich würde nicht vor ihm fliehen. Ich hatte mich entschieden. Ich würde ihm die Frage stellen. Sobald er erwacht war.
Mit zitternden Knien nahm ich ihm gegenüber Platz und sah mich ehrfürchtig in der düsteren Jurte um, die ich noch nie zuvor betreten hatte. Das Zelt hatte fünf statt der üblichen vier Scherengitter. Die Dachstangen waren wohl ursprünglich blau lackiert gewesen, waren aber durch den Rauch des Herdfeuers und der darin verbrannten Kräuter gedunkelt. Der Filz hatte eine rauchgraue Schattierung angenommen, die an dunkle Gewitterwolken am fernen Horizont erinnerte. Von den Dachstangen hingen allerlei Gegenstände herab: der Schamanenspiegel, Mistelzweige, Büschel von getrocknetem Thymian, der einen würzigen Duft nach dem Gras der Herbststeppe verbreitete. Das Bettzeug war nicht zusammengerollt, die Filzdecken lagen zerwühlt entlang der Jurtenwand.
Plötzlich begann der Schamane zu zittern, als stünde er mitten in einem Eissturm. Er verzog das Gesicht, als ob er Schmerzen hatte. Ein grauenvoller Laut, ein Stöhnen, ein Schrei entrang sich seiner Brust. Sprach er mit seinen Geistern? In diesem Augenblick brach Kökschu in seiner sitzenden Position zusammen. Er stürzte wie betrunken zur Seite und wäre beinahe in das Feuer gefallen. Sein Kopf schlug hart auf dem Boden auf.
Ich zog ihn vom Feuer weg und drehte ihn auf den Rücken. Mit weit offenen Augen starrte er an mir vorbei an das Jurtendach. Er sah mich nicht. Wieder dieses grauenvolle Stöhnen. Neben dem Eingang der Jurte hing der Schlauch mit Airag. Ich opferte einige Tropfen den Geistern, dann ließ ich einen dicken Strahl der Stutenmilch direkt in Kökschus Mund laufen. Zuerst zeigte der Schamane keine Reaktion, doch dann begann er zu schlucken. Sein Geist kehrte aus der Unendlichkeit in seinen Körper zurück und er begann zu husten. Sofort setzte ich den Schlauch ab und verschloss ihn sorgfältig.
»Wacht auf, Kökschu!«, flüsterte ich.
»Ich bin wach«, hustete der Schamane. »Ich habe vielleicht ausgesehen, als habe ich geschlafen, aber ich war wach. Wenn auch nicht hier.«
»Nicht hier?«
»Was tust du hier, Temur?«, fragte Kökschu atemlos.
»Ich wollte Euch etwas fragen ...« Ich war nicht mehr so sicher, ob ich das noch wollte. Konnte er mir meine Frage überhaupt beantworten? Die Frage, die mich seit Wochen quälte. Die Frage, die mein Freund Jesutai mit einer unbedachten Bemerkung aufgewirbelt hatte wie der Herbststurm die Blätter.
Kökschu wartete ab, ob ich den Satz beendete. Dann zog er den Schlauch mit Airag zu sich heran und nahm einen tiefen Schluck. »Hast du es dir anders überlegt? Willst du jetzt nichts mehr fragen?«
»Ich ... nein.« Ich erhob mich und wollte die Jurte verlassen, aber Kökschu hatte meine Hand ergriffen und zog mich zu sich heran.
»Ich kann deine Gedanken lesen, Temur«, sagte er und ich schrak zusammen. »Du hältst mich für besessen«, fuhr Kökschu unbeirrt fort und sah mir tief in die Seele, als wollte er mich mit seinen eisblauen Augen bannen. »Du irrst nicht, Temur. Ich bin besessen. Ich spreche mit den Geistern, ich kann sie hören. Ich kann Dinge sehen, die andere Menschen nicht sehen können. Ich weiß, was du mich fragen willst.«
Meine Selbstbeherrschung war geschmolzen wie der Schnee unter der Frühlingssonne. Ich machte einen Schritt von ihm weg. Und noch einen. Und noch einen. Dann stand ich im Jurteneingang. Nur einen Schritt noch und ich wäre in Sicherheit!
»Wir sehen uns morgen«, sagte Kökschu zum Abschied.
Ich flüchtete zu meinem Freund Jesutai, der die Schafe seines Vaters in der Nähe des Ordu hütete. Jesutai und ich verbrachten den Nachmittag auf den Weiden und spielten mit unseren Wurfknöcheln. Meinen Besuch beim Schamanen erwähnte ich mit keinem Wort. Meine Gedanken hatten Feuer gefangen. Woher wusste Kökschu, dass ich wiederkommen würde?
Im Licht der untergehenden Sonne sahen wir von Osten zwei Reiter ins Ordu kommen. Sie stiegen vor Toda Bekis Jurte ab.
Jesutai und ich rannten zurück ins Lager.
»Wer ist gekommen?«, fragte Jesutai seine Mutter.
»Zwei Männer aus Fürst Temudschins Lager«, sagte sie.
Temudschin! Welcher Junge hatte noch nicht von den Heldentaten des Fürsten der Kiyat gehört? Welcher Junge wollte nicht sein wie er! Nach der Ermordung seines Vaters durch die Tatar hatte sich sein Klan von ihm abgewandt und war Fürst Targutai gefolgt. Die verzweifelte Lage hatte dem jungen Temudschin einen unbeugsamen Überlebenswillen eingeprägt. Mit seiner Mutter und seinen Brüdern war er in die Wildnis der Nordwälder geflohen, verfolgt von Targutai Beki, der ihn jagen ließ wie einen Schneeleoparden. Eines Tages war Temudschin zurückgekehrt und hatte sich zum Fürsten der Kiyat gemacht.
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