»Ich würde gerne einen Blick auf die Liste werfen.« Der Mann kramte kurz unter dem Tisch und legte dann ein schwarzes Ringbuch vor sich auf den Tisch. Doch bevor Max es sich nehmen konnte, wurde er von ihm am Arm gepackt, mitfühlend und verständnisvoll natürlich. »Heute Abend findet hier ein kleiner Gedenkgottesdienst statt. Vielleicht möchten sie ja kommen. Beten und Gesellschaft können Wunder bewirken.« Während er das sagte, geschahen zwei Dinge. Zum einen legte der junge Helfer Max einen dieser „Gott ist mit uns“- Buttons in die Hand und zum anderen musste sich Max schwer zusammenreißen, um dem Gottesfürchtigen, der noch an Wunder glaubte, keine Hasstirade an den Kopf zu werfen. Er ballte die Hand, in die ihm der Button gelegt worden war zur Faust und nahm mit der anderen das schwarze Ringbuch. Es war schwer und fiel fast auseinander. Man hatte darin weit mehr Seiten hinzugefügt, als es eigentlich hätte tragen sollen. »Wenn sie damit durch sind, lassen sie es einfach liegen. Wir sammeln es dann wieder ein«, rief der junge Helfer ihm hinterher. Max ging zu einer Sitzgruppe aus Klappstühlen, die noch relativ leer war. Er setzte sich, legte das Ringbuch zur Seite und begann mit dem Button in seiner Hand zu jonglieren. Ihm kam der Gedanke, dass es zu einer Art Ritual geworden war und fast augenblicklich schleuderte er ihn weg. Er nahm sich das Buch, klappte es auf und begann die Liste durchzugehen. »Sie sind also auch der Meinung, dass die das Geld für die Buttons lieber in Scotch hätten investieren sollen.« Der Mann, der sich ihm näherte, war vielleicht Anfang sechzig. Er hielt ihm den verhassten Button hin und Max nahm ihn widerwillig zurück. »Ist es ihr Erstes?« Der Mann klopfte dabei auf ein Duplikat des Ringbuchs. Max holte Luft und wollte ihn eigentlich zum Gehen auffordern, stattdessen schüttelte er nur den Kopf. »Meines auch nicht.« Dabei öffnete der Fremde seine verschmutzte Jacke und entblößte darunter sieben verschiedenfarbige Buttons. Er setzte sich neben Max, holte aus seiner Innentasche einen Flachmann hervor und nippte daran. »Ein Vater sollte nicht in einem Buch voller Toter nach seiner Tochter suchen müssen.« Er nahm einen weiteren Schluck aus dem Flachmann. »Und wenn doch, dann zumindest nicht nüchtern.« Nach einem weiteren Schluck reichte er den Flachmann seinem Nachbarn. »Wie heißen sie, mein Junge?« Max zögerte, sowohl mit der Antwort, als auch damit ihm den Flachmann abzunehmen. »Max.« Der Alte nickte. »Ich bin Frank.« Max nahm ihm den Flachmann ab. Doch statt einen Schluck daraus zu nehmen, platzte eine Frage aus ihm heraus, ohne zu wissen, dass er sie überhaupt stellen wollte. »Warum tun sie sich das an?« »Nun ja, ich denke weil eine Wahrheit, die man nicht wahr haben will, nicht zur Lüge wird und weil mit dem Wissen um die Wahrheit der Heilungsprozess beginnt.« Max hatte sich bereits alle möglichen Antworten zurechtgelegt. Hauptsächlich weil er sich diese Frage seit langem selbst stellte und eine Antwort darauf finden musste, um nicht durchzudrehen. Doch mit dieser hatte er nicht gerechnet.
Es war bereits über eine Woche verstrichen, seit ich im Krankenhaus aufgewacht war. Ich hatte Dr. Miller erzählt, wie Peter und ich das Flugzeug bestiegen hatten, um uns in Las Vegas das Jawort zu geben. Nachdem ich meine Ausführungen beendet hatte, bestätigte er weder meine Erklärungen, noch widersprach er mir. Er bat mich lediglich um Entschuldigung und um einen kurzen Augenblick Geduld, dann verließ er das Zimmer. Peter, der die ganze Zeit vor dem Fenster gewartet hatte, begann sofort ihn mit Fragen zu bombardieren. Ich konnte von dem Gespräch nichts hören, aber ich konnte es durch die Glasscheibe beobachten. Dr. Miller brauchte mehrere Anläufe, bis er Peter dazu gebracht hatte ihm zuzuhören und während er sprach, schauten sie abwechselnd immer wieder zu mir. Dann begann Peter zu weinen. Dr. Miller drückte tröstend seine Schulter und rief eine Krankenschwester, die ihn stützend wegbrachte. Dann betrat Dr. Miller wieder das Zimmer und als er auf dem Hocker Platz genommen hatte, fing er an zu erzählen. Ich erfuhr, dass ich seit fast zwei Wochen hier war und im Koma gelegen hatte. Er nannte kaum Details, versicherte lediglich, dass es kein Flugzeugabsturz war, der mich ins Krankenhaus gebracht hatte. Er erklärte mir auch, dass es ganz typisch sei, dass Amnesiepatienten sich an traumatische Ereignisse oftmals nicht mehr erinnern könnten. Bei manchen Menschen kehrten die Erinnerungen recht zügig wieder zurück, bei anderen würden sie jedoch ein Leben lang im Verborgenen bleiben. Ich hörte ihm aufmerksam zu, aber: was hatte das nur mit mir zu tun? In den nächsten Tagen ging es mir rasch besser, zumindest körperlich. Trotzdem untersuchten sie mich von Kopf bis Fuß, wobei sie natürlich mehr Wert auf meinen Kopf legten. Sie stellten mir auch einen Psychologen zur Seite, Dr. Rousseau, der mir nun in meiner kleinen Einzelzelle mit übereinandergeschlagenen Beinen gegenüber saß. Schwarze Socken ragten dabei zwischen seinen auf Hochglanz polierten Schuhen und seiner eleganten, sehr teuer wirkenden Anzughose hervor. Sein Haar glänzte und die Pomade darin hielt es streng zurückgekämmt. »Wie fühlen sie sich heute?« Seine Stimme klang freundlich und geduldig. Ich hatte mich im Schneidersitz auf einem der Besucherstühle niedergelassen und schaute in Gedanken versunken durch die herabgelassene Jalousie hinaus in die Welt. »Ich fühle mich traurig und ich bin sauer«, antwortete ich ihm monoton. »Sind sie „sauer“ oder ist es vielleicht doch ein stärkeres Gefühl? Zum Beispiel Wut.« Ich löste meinen Blick von den Jalousien und schaute ihn nüchtern an. »Ist das nicht vollkommen egal?« Ich wartete auf eine Antwort, doch außer dass er sich Notizen machte, geschah nichts. Ich stellte meine Beine zurück auf den Boden und rutschte auf dem Stuhl hin und her, bis ich nur noch auf dem Rand saß. »Von mir aus, dann halt Wut!« Ich ließ mich in den Stuhl zurückfallen und starrte wieder aus dem Fenster. Meine Wangen begannen zu glühen und ein immer größer werdender Kloß schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte nicht schon wieder weinen, schaffte es aber auch nicht die Tränen zurückzuhalten. »Sie dürfen nicht aufgeben. Ihre Amnesie muss kein Dauerzustand sein.«
»Warum erzählen sie mir nicht einfach was passiert ist?«, platzte es jetzt aus mir heraus. »So funktioniert das nicht.« Seine Stimme klang nüchtern, vielleicht aber auch etwas hilflos. »Wir haben doch schon festgestellt, dass sie die Tatsachen noch nicht akzeptieren wollen.«
»Das ist ja auch nicht wahr. Ich habe meine Hochzeit nicht vergessen!« Ich machte eine kurze Pause, als ich merkte, dass sich meine Stimme überschlug und fuhr dann etwas ruhiger fort.
»Ich kann sie nicht vergessen haben! Den schönsten Tag in seinem Leben darf man doch nicht vergessen. Und nur weil Peter mir jetzt diesen rosa Cinderella Ring angesteckt hat…«, ich nahm ihn von meinem Ringfinger und hielt ihn Dr. Rousseau unter die Nase, »…wird es dennoch nicht wahr.«
Dr. Rousseau schien unbeeindruckt und ich steckte den Plastikring zurück an meinen Finger.
»Vielleicht sollten wir eine Pause machen. Sie sollten sich ein wenig ausruhen.«
»Ich will mich nicht ausruhen. Ich will endlich wissen was geschehen ist und vor allem will ich hier nicht mehr länger eingesperrt werden. Warum darf ich nicht fernsehen?« Ich deutete auf die leere Halterung über ihm in der Ecke. »Oder wenigstens Zeitung lesen?«
»Alles zu seiner Zeit. Jetzt sollten sie sich erst einmal ausruhen.«
Hatte er mir nicht zugehört? Doch bevor ich noch etwas erwidern konnte kam eine Schwester herein und benachrichtigte Dr. Rousseau über einen Notfall. Er stand auf und eilte in seinem feinen Zwirn der Schwester hinterher, als er sich noch einmal umdrehte. »Legen sie sich etwas hin. Wir machen dann heute Nachmittag weiter.« Damit fiel die Tür ins Schloss und ich war wieder allein. Lediglich das rasselnde Summen der Klimaanlage durchbrach die Stille. Ich war auf mich alleine gestellt und ein erster flüchtiger Blick durch die Glasscheibe, hinaus auf die Station, verriet mir, dass sich zurzeit niemand für mich interessierte. Ich ging auf Zehenspitzen zur Tür und wagte einen zweiten prüfenden Blick, bevor ich die Tür aufmachte und versuchte mich von der Station zu schleichen. Ich hatte wirklich nicht vor den nächsten Kiosk zu überfallen und alle Zeitungen an mich zu bringen. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen spazieren gehen und mal andere Gesichter sehen. Weit kam ich allerdings nicht, ohne Nachrichten wahrzunehmen. An der Wand gegenüber dem Aufzug hing ein Fernseher, der schreckliche Bilder von einem überfluteten Gebiet zeigte. Es waren Luftaufnahmen und sie dokumentierten das ganze Ausmaß eines... Mein Kopf fing an zu schmerzen. Ich atmete tief durch und zwang mich weiter zu gehen. Doch es half nichts, schon an der nächsten Ecke holte mich diese Meldung wieder ein. An der Wand hing ein Plakat mit der Aufforderung, den Opfern der Tsunamikatastrophe in L.A. zu helfen. Der Druck in meinem Kopf verwandelte sich in einen grellen Schmerz und ich sackte zu Boden. Ich drückte mir die Hände auf die Augen, weil ich fürchtete sie würden durch den Druck, der sich in meinem Kopf ausbreitete, platzen. Erst als der Schmerz nachließ, nahm ich die Hände wieder runter und öffnete die Augen. Ein unterschwelliges Rauschen drang an meine Ohren und ich schaute mich um. Doch da war nichts, noch nicht einmal das Meer, welches man von dort aus hätte sehen müssen. Ich hatte keine Ahnung woher ich wusste, dass man an dieser Stelle das Meer sehen konnte, aber ich wusste, dass es so war. Das Rauschen wurde immer lauter, bis es sich zu einem ohrenbetäubenden Tosen ausgeweitet hatte. Am Horizont, wo die Sonne bereits im Begriff war unterzugehen und die Welt in ein tiefes Rot tauchte, rollte der Grund für den Lärm auf die Küste zu und auf einmal hörte ich Schreie, entsetzliche Schreie, die mich auf die Füße zwangen. So unaufhaltsam wie das Rauschen setzte die Welle ihren Weg fort. Ich war starr vor Angst und schaute mich nach einem Ausweg um. Die Schreie kamen von Menschen, die sich auf den Dächern der angrenzenden Häuser in Sicherheit gebracht hatten und ich stand hier unten, ganz allein. Die Welle war bereits so nahe gekommen, dass ich sie riechen konnte: eine Mischung aus Algen, Fisch und Moder. Und als ich anfing das Meer auf meinen Lippen zu schmecken, wurde mir übel. Mein gesamtes Blut schien in meine Beine gesackt zu sein und ließ mich wie angewurzelt dastehen. Es war zu spät. Die Welle stand bereits wie eine Wand vor mir. Sie würde mich packen und mit sich reißen. Es gab keinen Ausweg, zumindest nicht für mich. Ich fing an zu schreien, so laut ich nur konnte, doch meine Stimme kam gegen dieses Monstrum nicht an und ich verstummte, als mir bewusst wurde, dass ich gleich meinem Schöpfer gegenübertreten würde. Ich fiel auf die Knie und schloss wieder meine Augen, darauf wartend, dass die Welle mich verschluckte.
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