„Gott sei Dank hast du die Wohnung nicht vor deiner Wanderung und inneren Einkehr aufgelöst", hatte Valentina gelästert, während sie auf Liobas Füße eine Mischung aus Melkfett, Arnika und Vaseline auftrug.
Nun ist Liobas Unternehmungslust geweckt, als sie sich mit den beiden hübsch verpackten Büchern zu ihrer langjährigen Freundin aufmacht. Es beflügelt sie, dass sich in Valentinas Dunstkreis keiner aus ihrer Familienphase aufhält.
Valentina hat in ihrer geräumigen Wohnküche Ess- und Balkontisch aneinandergerückt und die lange Tafel mit ihrem altertümlichen Geschirr eingedeckt. Die große, weiße Tischdecke unterstreicht die Frische der in ziselierten Gläsern angeordneten Maiglöckchen und die Zartheit des Geschirrs. Valentina ist vernarrt in solche Details.
Die Balkontür steht offen. Auf der Brüstung sind für die Raucher mit Sand gefüllte Blumentöpfchen dezent neben den frisch bepflanzten Blumenkästen aufgestellt.
Eine burschikos aussehende Helen hat einen riesigen Hefezopf gebacken, in den bunte Eier eingelassen sind. „Mhmm! Wie der duftet", wird er mehrstimmig gewürdigt. Es gibt Marmeladen nach raffinierten Rezepten mit und ohne Alkohol, verschiedene Sorten Honig und Käse. Dazu Obstsalat mit Mandelsplitter, Rumrosinen und in Ahornsirup karamellisierten Nüssen.
Eine kleine Ursula schwärmt von einem Kurs über idiomatische Redewendungen im Englischen, den sie gerade zusammen mit ihrem Mann, einem pensionierten Lehrer für Deutsch und Geographie, im Seniorenstudium belegt hat. Lioba schaut sie an. Dunkelblauer Strickpulli, dunkelblaue Jerseyhose, die Füßchen in Mephisto. Das schwarzgraue Haar auf Hausfrauenkurzhaarschnitt reduziert.
„Du bist wohl oft in England?", fragt sie das kleine Neutrum, einen Anflug von Interesse heuchelnd.
„Nein, das nicht." Putziges Gackern. „Aber der Kurs ist wirklich spannend." Die Kleine bleckt gottgefällig die Krönchen. „Das findet mein Mann auch." Sie lässt noch ein schmales Glucksen erklingen. „Letztes Semester haben wir römische Geschichte aufgefrischt - einfach nur so."
„Aha", fällt Lioba dazu ein. Automatisch checkt sie ab, ob es etwas geben könnte, das sie noch weniger interessierte.
„Gegenstand war vor allem die Rolle der Polis für die heutige Demokratie. Das vergisst man so leicht, dass dort unsere Wurzeln liegen." Durch ihr zartes Silberrandbrillchen blickt die Musterschülerin in die Runde, einen kleinen Triumph in der Miene.
Die Umsitzenden schweigen.
Lioba spürt eine Art von Verachtung für diese kleine, vertrocknete Frau, obwohl ihr keine wirklichen Gründe gegen das Seniorenstudium einfallen. Es kann schließlich nicht jeder seinen unermesslichen Zeitreichtum im Rentnerdasein durch Ehrenämter breitschlagen. Und die Einführung von Seniorenklappen steht noch aus, lästert es durch Liobas Gemüt. Vor ihrem inneren Auge sitzen die kleine graue Maus und ihr Gatte über einem spitzfindigen Idiom, ohne einander zu berühren. Auch nicht aus Zufall. Als niemand weiter auf Ursula eingeht, empfindet Lioba Schadenfreude. Außer ihrem Gatten würde ein Mann die Kleine noch nicht einmal mit dem Hintern ansehen. Und der Gatte vermutlich auch schon lange nicht mehr...
Eine Ursache für die drohende Staatspleite
Interessant wird es für Lioba, als sie mit ihrer Tischnachbarin ins Gespräch kommt. Auf ihre Frage „Und was machst du so?" kommt die Antwort: „Ich bin Hartzlerin ." Als Lioba nicht sofort reagiert, schnurrt sie herunter: „Von der Geiz-ist-geil-Fraktion . Gut gepolstert in allen Lebenslagen."
Die Frau, die sich ihr als Conny vorstellt, lacht auf. „Entschuldigung. Aber ich war schon immer von dem Wunsch nach Einfachheit beseelt." Verhalten lacht sie weiter. „Besser am Existenzminimum vegetieren als am Maximum ersticken." Das Lachen ist wieder lauter. „Im Übrigen bin ich ohnehin kein Fan von üppigen Sitzlandschaften vom Möbeldesigner. Lümmeln kann ich mich auch auf Garnituren von 3R.“
„3R?“ Lioba fühlt sich unsicher, weil die andere daherredet, als sei sie mit allen Wassern gewaschen.
„Steht für Recyclen, Reparieren, Reorganisieren. Ist eine ganz eigene Zunft. Ich nenne es aber Ritas Resterampe.“
„Und was kriegt man da?“
„Alles.“
„Wirklich alles?“
„Absolut alles. Außer Fressalien und Särgen. Einmal unten – immer unten.“
Lachen.
„Aber alles andere ist wohlfeil. Von Knöpfen über Tapeten, Möbel in allen Varianten, Toaster, Mikrowellen, Bügelautomaten und Waffeleisen durch die Jahrzehnte. Natürlich auch Geschirr.“
„Noch nie von gehört.“
„Und alles für fast nichts.“ Conny strahlt. „Seinen Überfluss kann man dort gratis entsorgen, schafft gleich mehrere Arbeitsplätze und unsereins kann sich eindecken. Meine Garderobe hat keine zehn Euro gekostet. Nur ein bisschen Zeit fürs Umschneidern.“
„Nee“, sagt Lioba und lässt sich von der anderen anstecken.
Sie denkt unwillkürlich, dass diese Conny im Vergleich zu ihr ganz anders aussieht. Sie ist klein und rundlich, Lioba ist schlank und über einssiebzig. Conny hat kleine, fleischige Hände mit winzigen Speckkuhlen auf dem Handrücken. Ein bisschen so wie Valentina. Die Nägel sind dunkelrot, fast schwarz lackiert, akkurat in Form gebracht. Zum Geigen wären sie völlig ungeeignet, denkt Lioba, deren lange schlanke Finger etwas knochig wirken und superkurze Nägel haben. Die oberen Ränder des Nagelbetts sind gerötet, haben kleine Verletzungen. Während Lioba Jeans und einen hellgrauen Pulli anhat, trägt Conny eine lockere weiße Bluse mit einem langen dunkelgrünen Rock und ebenso grünen Schnürstiefeletten, die weit über die Knöchel reichen. Diese Zusammenstellung beweist Geschmack, wie Lioba findet. Und alles aus Ritas Resterampe...?
„Aber jetzt mal im Ernst: Ich habe zu tun, weil ich in die Tauschbörse einzahle."
„Muss ich das kennen?" Sie kommt vom andern Stern, denkt Lioba.
„Besser wär's schon. Ich gehör jedenfalls zum harten Kern. Mein persönlicher Ausstieg aus der Warteschleife beim Arbeitsamt." Conny gackert. „Und als Alternative zur Flaschensammlerin. War ich kurz davor."
„Habt ihr eine Ersatzwährung?"
„So wie Schokolade, Stoff oder Zigaretten?“ Conny grinst. „Klar doch. Bisschen Schmugglerromantik muss sein. Da schwärm ich für."
„Heutzutage besteht Hehlerware wohl eher aus Heizöl, Pellets und Benzin", sagt Lioba.
„Das wär was." Conny gackert kurz auf. „Je nach Altersklasse aus einem selber.“ Neuerliches Aufgackern. „Nein, die Sache ist die: Man zahlt das ein, was man kann oder gerne tun möchte."
„Nee - im Ernst?"
„Aber ja. Zum Beispiel gibt es eine Familie in meiner Nähe, die seit kurzem ein bockiges Rotzlöffelchen als Pflegekind hat. Der Kleine ist drei Jahre alt und hat schon einiges hinter sich." Sie zieht kurz die Brauen zusammen. „Er ist furchtbar anstrengend, was wirklich kein Wunder ist. Das Jugendamt hat ihn aus dem letzten Loch herausgeholt."
„Und was wird nun getauscht? Sorry, aber ich kann nicht ganz folgen. Überhaupt...".
„Überhaupt was?“
„Kommst du von einem anderen Stern?“
„Aber ja. Vom Hartz-Astoriden im 14. Milchstraßensystem.“
„Entschuldigung. Ich wollte dir nicht zu...“.
„Kein Thema.“ Für einen Augenblick scheint es, als breche Connys Selbstsicherheit ein. Aber mit einem „Wo waren wir stehen geblieben?“ hat sie sich schnell wieder im Griff.
„Richtig. Das Rotzlöffelchen. Jeden Mittwochnachmittag hol ich ihn ab und wir unternehmen etwas. Spielplatz - oder bei schlechtem Wetter spielen wir drinnen, backen Plätzchen oder gehen ins Schwimmbad. Es klappt prima mit uns beiden. Die Pflegemutter hat also Mittwochnachmittag immer frei."
Dafür würde sie jemanden in Anspruch nehmen, wenn eine für sie unlösbare Reparatur anstünde, wenn etwas von A nach B zu schleppen wäre oder zum Beispiel habe ihr ein Student das Internet eingerichtet.
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