Laura trug ihre dunklen Haare gerne schulterlang und hatte ein schmales Gesicht, während Kim eine eher runde Gesichtsform und hellblonde Haare hatte, aus denen sie sich stets aufs Neue pfiffige Kurzhaarfrisuren zaubern ließ. Auch vom Wesen her waren dem ersten Eindruck nach keine deutlichen Parallelen zwischen den beiden zu entdecken. Seine Laura war eher ruhig, überlegt und zurückhaltend, während ihre zwei Jahr ältere Schwester stets quirlig den Mittelpunkt suchte, in dem sie sich dann so richtig wohlfühlte. Ihr Altersunterschied war sowieso in keiner Weise zu erkennen, denn beide waren sehr attraktiv.
Und nun kommt sie also, seine Schwägerin, um sie zu besuchen. Sie war es, die ihn seinerzeit mit Laura bekannt gemacht hatte. Dies wiederum ergab sich durch ihren damaligen Freund Maximilian, der auch heute noch Martins Kollege ist. Was Kim aber nicht davon abhielt, unverhohlen durchblicken zu lassen, dass auch er ihr gut gefiel. Bald darauf trennte sie sich von Max und sie und Martin begannen eine Affäre. Nachdem er jedoch ihre Schwester Laura näher kennengelernt hatte, war es Martin überhaupt nicht mehr klar, wen er mehr gemocht hatte, aber nach kurzer Zeit entschied er sich doch für Laura, weil ihr besonnenes Wesen besser zu ihm passte, als das der umtriebigen Kim. Nie hatte er seine Entscheidung bereut, aber ehrlicherweise musste er sich eingestehen, dass er aufgrund der aktuellen etwas prekären Situation schon das eine oder andere Mal an Kim, die er ja weit weg in den USA wähnte, denken musste.
Atemlos und mit zwei großen Einkaufstüten in den Händen kam Laura nach Hause. „Mensch, was sagst du, Martin? Das ist ja wohl die Überraschung, oder? Ich bin richtig ein bisschen aufgeregt!“ „Ja ehrlich gesagt, mit ihrem Besuch hätte ich auch nicht gerechnet, so richtig bewusst war mir das auch gar nicht, dass sie nur für ein Jahr nach Amerika gegangen ist. Hast du alles bekommen?“ „Ja, ich müsste alles haben, Butter, Käse, verschiedene Brotsorten, Salat, Tomaten, Weintrauben, Gurken und frische Kräuter. Sie will mal wieder so ein richtiges deutsches Abendessen genießen – von Wurst und Schinken hatte sie nichts gesagt, wahrscheinlich ist sie immer noch Vegetarierin – an den Wein hast du gedacht?“
Martin zeigte auf die Flaschen und dann bereiteten sie gemeinsam das Essen vor. Der gedeckte Tisch am Essplatz sah inzwischen richtig gut aus. Die liebevoll arrangierte Käseplatte als Mittelpunkt, ein vielfältiger Brotkorb, frisch zubereiteter Salat und über den Tisch verteilt ein paar Teller und Schälchen mit Cherrytomaten, kleinen Gewürzgurken, Dips und etwas Obst. Bei einem Italiener hatte Laura sogar noch eine kleine, runde Tiramisu-Torte erstanden, die sie aber zunächst noch kühl stellte. Ihre Schwester hatte früher nach jedem Essen immer Appetit auf etwas Süßes, und sie wollte ihr dieses Vergnügen auch heute Abend wieder gönnen.
Zehn vor Acht klingelte es zweimal an der Haustür und da war sie. Strahlend und mit einem riesigen Blumenstrauß in der einen und einer Flasche Sekt in der anderen Hand breitete Kim ihre Arme aus und wurde von ihrer Schwester und Martin ebenso fröhlich wie herzlich empfangen. „Mensch, ihr beide habt euch ja überhaupt nicht verändert, gut seht ihr aus! Es wurde ja auch höchste Zeit, dass wir uns einmal wiedersehen!“ Auch Martin und Laura fiel es nicht schwer, die Komplimente zurückzugeben denn Kim sah wirklich frisch und sehr natürlich und schön aus. „Sag mal, wie lange bist du denn schon hier, also von einem Jetlag merkt man dir jedenfalls nichts mehr an.“ „Ich bin schon vor ein paar Tagen angekommen, musste mich aber erst einmal regenerieren. Ich hatte noch einiges zu erledigen, erzähle euch später alles der Reihe nach. Im Moment habe ich aber nur eines: Nämlich einen Mordshunger und wie ich sehe, seid ihr bestens darauf vorbereitet.“ Mit einer ausladenden Armbewegung wies sie auf den reich gedeckten Tisch. „Ich habe mich so darauf gefreut, euch wiederzusehen! Ich verschwinde nur mal kurz im Bad und dann essen wir ja?“
Martin konnte es nicht erklären, aber er hatte das sichere Gefühl, dass durch das Auftauchen von Kim plötzlich alles viel heller und leichter erschien. Auch Laura war seit der Ankunft ihrer Schwester irgendwie gelöster und in bester Stimmung. Er entkorkte den Sekt, die Burgunderflasche und den Weißwein, während Laura begann die drei Sektgläser zu füllen. „Oh toll, lasst uns erst einmal anstoßen, auf uns ihr Lieben!“ Und damit erhob sie ihr Glas und küsste ihre Gastgeber noch einmal auf die Wangen. „Es ist so schön, wieder hier zu sein!“
Sie setzten sich an den Esstisch und als erstes bestrich sich Kim hingebungsvoll eine kleine Scheibe Landbrot mit Butter. Mit geschlossenen Augen biss sie herzhaft davon ab und spürte dem Geschmack des so lange entbehrten Genusses nach. „Ihr wisst gar nicht, wie gut es hier in Deutschland ist, mit diesem schönen Brot und all den anderen Lebensmitteln, die oft noch von kleinen Erzeugern handwerklich hergestellt werden. Ich hatte wirklich keinen Bock mehr auf die ganze Industrieware aus den amerikanischen Agrarfabriken, die ich drüben zu mir nehmen musste. Aber wenn du überleben willst, was bleibt dir anderes übrig? Danke, dass ihr das alles hier heute für mich aufgetischt habt!“ Und sie erhob ihr Weinglas. „Auf euch!“ „Kim, erzähl doch mal, wie ist es dir so ergangen in Amerika? Wir haben die ganze Zeit doch kaum etwas von dir gehört.“ „Naja, du weißt doch, ich bin ein bisschen schreibfaul und ich dachte mir, wenn ich nichts von mir hören lasse, dann werdet ihr euch schon denken, dass es mir gut geht.
Obwohl, unterschwellig habt ihr bestimmt die eine oder andere Nachricht gelesen oder gehört, ohne dass ihr wusstet, dass sie aus meiner Feder stammte. Ich war ja als Auslandskorrespondentin für die ‚dpa‘ tätig und meine Berichte fanden glücklicherweise oft ihren Weg in die verschiedenen Medien. Zitiert und nachzulesen sowohl in den digitalen Produkten der Zeitungsverlage als auch in den Printmedien und Hörfunknachrichten. Ich konnte das ja ganz gut im Internet verfolgen. Aber es ist manchmal sehr frustrierend gewesen, dass ich zum Teil tagelang über einem Thema gebrütet hatte und nichts, aber auch gar nichts davon wurde in irgendeiner Form angenommen und veröffentlicht. Aber einmal hatten sich alle Nachrichtensender und Agenturen regelrecht auf mich gestürzt, als ich im Juli 2013 quasi Augenzeuge des Boston-Marathon Attentats wurde. Mein Hotel stand genau am Ort des furchtbaren Geschehens und ich schaute nach dem ersten Knall hilflos und voller Panik auf das Grauen, das sich 10 Stockwerke unter mir auf der Straße abspielte. Glaubt mir, es ist ein Riesenunterschied, wenn du von einigen Toten und hunderten Verletzten liest, oder wenn du sie unmittelbar und life vor dir siehst, wenn du quasi mittendrin bist, versteht ihr? Ich habe die Hölle mit eigenen Augen gesehen und die entsetzlichsten Bilder haben sich in meinem Gehirn festgebrannt und werden dort vermutlich bis an mein Lebensende bleiben. Aber das soll für heute Abend wirklich nicht unser Thema sein. Was habt ihr so gemacht, wie ist es euch in der ganzen Zeit ergangen?“
„Ach weißt du“, begann Martin zögernd, „bestimmt mit sehr viel weniger Aufregung als bei dir. Ich bin immer noch beim Finanzamt und Laura bei ihrer Werbeagentur. Also mit anderen Worten, unser Leben plätschert so dahin. Aber wir sind froh, dass es uns gut geht, dass wir gesund sind und dass wir in Frieden und Freiheit leben dürfen.“ Laura nickte zustimmend und auch Kim lächelte verstehend. „Und eure Freunde, ein paar kenne ich ja, was machen die denn so, der Max zum Beispiel?“ „Och, du das Übliche halt, Insa und Thomas haben endlich geheiratet, kurz bevor ihr Paul zur Welt kam. Ja und Max arbeitet auch weiterhin mit Martin zusammen, ich glaube er ist jetzt wieder Single, nicht Martin?“ „Ja, in der Tat, er findet immer noch nicht so den richtigen Dreh bei den Mädels, glaub ich.“ Bei dem Gedanken an seinen besten Freund und an dessen Unbeholfenheit Frauen gegenüber musste Martin kurz auflachen. Laura erzählte weiter: „Lutz und Silke haben auch inzwischen ein Kind. So richtig Kontakt haben wir eigentlich alle nicht mehr, weißt du, also außer Martin und Max natürlich.“ „Und ihr, habt ihr auch Nachwuchspläne?“ Abwechselnd blickte sie ihre Schwester und ihren Schwager aus großen Augen fragend an. So kannten sie Kim, immer gerade heraus, ohne jemals ein Problem damit zu haben, ein Thema vor versammelter Mannschaft anzusprechen, auch wenn andere es lieber unter vier Augen erörtert hätten.
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