Keine Antwort war zu hören, aber ein bestimmtes, lange vermisstes Gefühl stieg in ihm auf, ein Kribbeln, das ihm Gänsehaut machte. Dabei hatte er Kim über ein Jahr nicht gesehen, denn sie war beruflich in die USA versetzt worden und hatte sich außer zu den Geburtstagen und zu Weihnachten kaum bei ihnen gemeldet. Martin hatte sie deshalb einfach gar nicht mehr auf dem Schirm. Inzwischen war er Zuhause angekommen und stellte seinen Wagen im Carport ab. „Du kommst spät!“, rief ihm Laura schon im Flur entgegen. Ihre Stimme klang etwas gereizt. „Ja, ja, ich gehe nur mal kurz ins Bad und dann komme ich, okay?“, antwortete er genervt, während seine Frau bereits ins Schlafzimmer ging.
Martin schaute in den Spiegel und schüttelte seinen Kopf. ‚Heute klappt es nicht, ich habe es schon im Büro gemerkt‘. Am ganzen Körper fing er plötzlich an zu schwitzen, ging hinüber in das Schlafzimmer und legte sich auf sein Bett neben Laura. Die richtete sich halb auf, sah ihn forschend an und fragte: „Hey – was ist los mit dir? Heute ist der ideale Tag, ich habe seit 3 Wochen darauf gewartet. Da können wir nicht noch lange überlegen, hörst du!“ „Ich weiß nicht, ob es heute geht, irgendwie ist mir auch nicht so besonders.“ „Ach Quatsch, ich weiß schon, dass es dir in letzter Zeit nicht leichtfällt mit mir ins Bett zu gehen, aber wir haben doch schließlich ein Ziel, Schatz!“
‚ Ja, du vielleicht‘ , dachte er und plötzlich musste er an Kim denken. Trotzig verschränkte er seine Arme hinter dem Kopf, während Laura begann, in zu streicheln. Hingebungsvoll tat sie alles, was früher immer zu einem schnellen Erfolg geführt hatte – heute jedoch nicht. „Ich verstehe es nicht, Martin, was ist bloß los, liebst du mich denn nicht mehr?“ Diese Frage, ausgerechnet jetzt, welche Antwort erwartet eine Frau, die sie in dieser höchst emotionalen Situation stellt? Eine ehrliche Antwort, oder nur das was sie hören will? „Doch Laura, ich liebe dich, aber die Zeiten, in denen ich auf Kommando konnte, die sind vorbei. Ich weiß nicht, aber vielleicht liegt es auch an dem Druck, der im Moment auf uns lastet, dem regelrechten Zwang erfolgreich zu sein, ein Kind zu zeugen. Wir haben ja seit einiger Zeit überhaupt keinen Spaß mehr im Bett so wie früher, sondern wir handeln nur noch mechanisch in Richtung Erfolg. So fühle ich es zumindest.“
„Es macht mich echt traurig, dass du es so siehst. Ich dachte, du würdest dich auch darauf freuen, wenn wir eine richtige Familie werden würden.“ „Würde ich mich ja auch, aber nicht um jeden Preis, Laura! Es darf dabei nicht alles Andere auf der Strecke bleiben.“ Sie aber wandte sich von ihm ab und weinte bitterlich in ihr Kissen. Kaum ausgesprochen, taten ihm seine Worte schon wieder leid, und er berührte sie tröstend am Arm. Seine Frau rückte jedoch trotzig noch ein wenig weiter von ihm weg, und deshalb stand er langsam auf und zog sich wieder an. „Übrigens, ich muss noch mal weg, der Wagen machte vorhin so ein komisches Geräusch, ich fahre kurz mal rüber in die Werkstatt.“
Auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt fuhr er zu einer freien hinteren Reihe und begann nach seinem Handy zu suchen. Na toll, ungünstiger ging es nicht: Zwischen den staubigen, öligen Gleitschienen der Sitzverstellung konnte er es schließlich sehen und mühsam herausfingern. Nachdem er das Gerät mit einem Tuch gereinigt hatte, tippte er auf die Liste der eingehenden Gespräche und starrte auf die zuletzt angezeigte Nummer. ‚Kim‘, dachte er, ‚wieso meldet die sich jetzt – ausgerechnet jetzt, gerade in dieser heiklen Situation‘. Er strich sich nervös übers Haar und überlegte unruhig, was er nun machen sollte. Doch irgendwie automatisch drückte sein Finger im Menü bereits auf „Anrufen“, der Anschluss war jedoch besetzt und so legte er wieder auf. Nun schaute er noch einmal genauer auf die ihm unbekannte Handynummer. Mit Sicherheit schien sie von einer deutschen Telefongesellschaft zu sein, wahrscheinlich war Kim also wieder im Lande. Fast wäre ihm sein Gerät vor Schreck abermals aus der Hand gefallen, als in diesem Moment ein Rufton erklang.
Bevor er sich melden konnte, sagte Kim munter: „Hallo Martin, na – alles klar, hast du dein Handy wiedergefunden?“ „Mein Handy schon, aber meine Sprache fast noch nicht, sag mal, das ist ja wohl eine Überraschung, du bist wieder in Deutschland?“ „Nicht nur in Deutschland, mein Lieber, ich bin sogar hier in Hamburg.“ „Bist du auf der Durchreise oder …?“ „Danke, mir geht es auch gut – sag mal interessiert dich das überhaupt?“ „Ach entschuldige, ja natürlich, ich – ich bin nur so perplex, weißt du, im Moment fühle ich mich irgendwie, ja ich weiß gar nicht wie, ich finde es nur komisch, dass du wieder da bist, so ganz ohne Ankündigung. Geht’s dir denn wirklich gut?“ „Ja, das sagte ich bereits, was übrigens ist daran so komisch? Ihr wusstet doch, dass ich nur für ein Jahr in die USA gehen würde, meine Auslandsmission bei ‚dpa‘ war doch genau auf diese Zeit begrenzt.“ „Ist mir jetzt gar nicht so in Erinnerung, hast du schon mit Laura gesprochen?“ „Eben zur Minute, ja – wir sehen uns heute Abend bei euch.“ Martin reagierte auf diese Nachricht nicht gerade erfreut und fragte gedehnt: „Heute Abend – aha – habt ihr euch etwa schon verabredet?“ „Klar, sagte ich doch, wir sehen uns heute Abend und ich freue mich wahnsinnig auf unser Wiedersehen, hoffentlich seid ihr beide inzwischen nicht zu alt und schrumpelig geworden und ich erkenne euch nicht mehr.“
Sie lachte fröhlich über ihre freche Bemerkung und alles schien ihm genauso wie früher zu sein, denn ihre flinke Zunge war niemals um eine Provokation verlegen gewesen. „Wieso treffen wir uns nicht in einem Restaurant? Also ich kenne da …“ Er konnte seinen Vorschlag aber nicht weiter vorbringen, weil sie ihn sogleich unterbrach. „Weil – mein Lieber – ich das ganze letzte Jahr fast nur in allen möglichen und unmöglichen Coffeebars, Restaurants, Pizzerien, Bistros und Hotels verbracht habe – genau deshalb! Ich möchte einmal wieder so etwas wie ein Zuhause spüren und deutsches Brot, deutsche Butter und französischen Käse essen, und ich will dazu einen wirklich guten Wein trinken. Und stell dir mal vor, Laura besorgt das alles sogar. Also mach dir keine Sorgen, wir sehen uns um Acht.“
Nach dieser deutlichen Ansage hatte sie einfach aufgelegt und Martin starrte sprachlos auf das erlöschende Display in seiner Hand. Im selben Moment rief Laura an. „Martin, wo bist du gerade?“ „Ich bin hier noch in der Werkstatt, es war nur eine Kleinigkeit, sie ziehen eben noch ein paar Schrauben nach.“ „Stell dir vor, wir bekommen heute Abend Besuch, Kim ist wieder zurück! Sie will aber nur Käsebrot und Wein – könntest du dich um den Wein kümmern? Du kennst dich doch da besser aus, Salat und das andere besorge ich schon – Martin? Bist du noch da?“ „Ja natürlich, das ist ja eine Überraschung, die Kim, meine Güte, ich hatte sie schon gar nicht mehr auf dem Plan. Aber okay, den Wein besorge ich gleich anschließend, wenn ich hier fertig bin, wir sehen uns dann zu Hause.“
Er ging gleich hier in diesen Laden bei dem er parkte, weil er wusste, dass der Markt auch in punkto Wein ganz gut sortiert war. Er entschied sich für einen blauen Spätburgunder vom Kaiserstuhl, einen weißen Bordeaux, den er auch schon mal probiert hatte und noch einen Chianti-Riserva. An der Käsetheke wählte er noch ein paar leckere französische Spezialitäten aus, danach machte er sich auf den Heimweg. Laura war noch nicht wieder in der Wohnung, als er nach Hause kam. Er stellte den Weißwein in den Kühlschrank und holte noch ein paar Flaschen Mineralwasser aus dem Keller herauf. Er merkte, dass er langsam nervös wurde, dieses Wiedersehen, das flößte ihm Unbehagen ein, obwohl er auch irgendwie auf seine Schwägerin gespannt war. Die beiden waren so unterschiedlich, dass niemand auf die Idee kommen würde, dass Kim und Laura Schwestern sein könnten.
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