Aber was hören wir denn hier? Der gewitzte Chronist erinnert daran, dass es diese Leute eigentlich gar nicht gibt. Hier würde doch nur aus einem Märchen vorgelesen, dass im letzten Jahrtausend spielt. Es ist noch nicht zu Ende. Die Geschichte geht weiter und dabei bleiben die Schauplätze und sogar einige Figuren darin, die gleichen.
Ursprünglich sollte die Romankulisse in so etwas ähnlichem wie der Fantasywelt Mittelerde spielen, um sie im Mystischen zu verstecken. Zum Beispiel beim Herrn der Ringe im Ringgau oder dem Herrn der Finsternis in einem dunklen Wald westlich davon. Aber das hieße, die spannenden Handlungsstränge zu verkennen bzw. zu unterschlagen, die es hierzulande ganz real gibt. In der bekannten Saga "Herr der Ringe" von Tolkien kämpfen Frodo und seine Hobbits auf Mittelerde heroisch gegen die dunkle Macht des bösen Herrschers Sauron. Insofern unterscheiden sich die Sorgen der zwergenhaften Hobbits ziemlich von denen der hiesigen sieben Zwerge in heutiger Zeit.
Weitaus besser könnte sich ein Romanautor aus dem Gau der Ringe von der heimischen Märchenwelt inspirieren lassen. Damit käme Lokalkolorit in die Geschichte. Diese wäre dann allerdings keine fremdartige Mythologie mehr, sondern eine bodenständige Handlung in einem hier bekannten Märchenlande. Wenn damit die Handlungsstränge gewisse Ähnlichkeiten mit dem tatsächlich existenten Hindernisparcour von Straßenplanern an der Autobahn A44 gewinnen würden, wäre das natürlich rein zufällig.
Märchen, Roman, Fiction oder Dokumentation?
Für die in Deutschland spielende Nachfolgeerzählung wurden umfangreiche literarische Umarbeitungen und Kürzungen des vorhandenen, gewaltig umfangreichen Stoffes erforderlich. Des Stoffs, aus dem (außerhalb von Hollywood) nicht die Träume sind, sondern eher die Alpträume. Jene von einigen Märchenerzählern des letzten Jahrtausends, die sich damals auf ihren hohen Rossen schwer vergallopiert haben, als es um eine wichtige Richtungsentscheidung ging. Und darum, ob man seinem Reich eher mit Linksabbiegen, Bremsen oder Rechtsabbiegen dient.
Der Aufgabe, den schier unübersichtlichen Berg von Unterlagen zu sichten und daraus mal ein verständliches Konglomerat zur Gesamtbeurteilung zu erschaffen, hat sich dankenswerterweise der Observer angenommen. Der über allem schwebende, zeit- und wesenlose Beobachter, der hier schon einmal vorgestellt wurde. Er nahm die historischen Bewertungen vor und ließ darüberhinaus viele fachliche Expertisen aus anderen Gauen in das vorliegende Werk einfließen. Das Kompendium erscheint nun in der modernen Form eines Romans. Gegenüber dem vorherigen märchenhaften Kapitel ändert sich dabei nicht viel, denn die in den folgenden Teilen des Romans auftretenden Figuren sind ebenfalls nur fiktiv. Sagt jedenfalls der Autor dieses Romans.
Mit der Verklausulierung ersparen es sich die Romanfiguren, die hier als Berichterstatter einer unendlichen Geschichte auftreten, die wiedergegebenen Einzelheiten mit doppelt beglaubigten Urkunden zu belegen. Ungern sollen die erwähnten Zitate, Protokolle, Vermerke und seine zeitgenössischen Originalnotizen mit veröffentlicht werden. Andernfalls könnten sich daraus kleinliche Kontroversen über einzelne Buchstaben, zuviel gesetzte i-Pünktchen oder hinein interpretierte Untertöne entspinnen. Womöglich in allen Details mit Debatten über kleinste Spielräume in der Ausdrucksweise, die Betonungsvarianten einzelner Vokale oder gar Umdeutungen dessen, was von den zitierten Personen tatsächlich gesagt und was angeblich nur gemeint war. Sie würden eventuell versuchen, die wirklichen Grundaussagen nachträglich zu verschleiern oder inhaltlich nachzufärben. Unter Umständen würden auch Nebenkriegsschauplätze eröffnet, die nur den einen Sinn hätten, von der Hauptsache abzulenken.
Aber - wie bei vielen Historienromanen auch - die beschriebenen Grundströmungen, Denkweisen, verordneten Dogmen, befohlenen Marschrichtungen usw. beruhen auf realen Vorkommnissen. Natürlich auch die ausführliche Benennung der verschiedenen Widerstände gegen die großen Infrastrukturprojekte und die Gegenargumente der Befürworter. Weil davon nichts frei erfunden ist, kann es sich der Autor auch erlauben, diesen Roman wie eine wissenschaftliche Arbeit aufzubauen. Mit Hilfe des ausführlichen Quellenverzeichnisses findet der Leser über Fuß-/Endnoten viele Aspekte belegt, die ihm sonst vielleicht unglaublich erscheinen könnten. Oder die er nie gehört oder wieder vergessen hat.
Das Projekt A44, die geplante Autobahn zwischen Kassel und Eisenach, durchzieht das vorliegende Buch wie ein roter Faden. Aber auch viele andere Großprojekte werden immer wieder zum Vergleich mit einbezogen. Damit spannt sich der Bogen über ein weites Feld, nicht nur über Nordhessen, sondern auch über Deutschland, Europa und die Welt. Im Vergleich zeigt sich, dass gerade die nordhessischen Infrastrukturdramen zu den ärgsten Negativbeispielen dieses Genres zählen.
Wo die akzentuierte Schilderung absehbar zu Konfrontationen mit Planungsbeteiligten führen könnte, stützt sich der Berichterstatter, unser Observer, auf bereits veröffentlichte Berichte aus Zeitungen, Magazinen, Funk und Fernsehen. Die auf Zitaten gegründeten Reportagen sind dann vollständig real. Darüber hinaus bewertet und vergleicht der Observer alle Meldungen. Vor allem verquickt er sie, der besseren Lesbarkeit halber, mit verbindenden Texten.
Sollten einige der weniger exponiert auftretenden Romanfiguren irgendwelchen tatsächlich Beteiligten an der realen A44-Planung ähnlich sehen, kann das folglich nur zufällig sein. Wer sich daran trotzdem noch stoßen sollte oder möchte, hat dafür mehrere Möglichkeiten. Die beste wäre allerdings, die zitierten Ereignisse für sich persönlich als Possen abzutun, was bei Betrachtung aus einiger Entfernung leicht fallen dürfte. Gegebenenfalls auch jene Ereignisse, die tatsächlich genau so passiert und in der Presse dokumentiert sind. Die dürfen natürlich nicht als Possen angesehen werden. Die wirklichen Akteure der unteren und mittleren Führungsebenen, sowie die Beamten der oberen und obersten Ebenen werden nicht namentlich genannt. Eine Ausnahme bilden politisch handelnde Personen der Zeitgeschichte. Die müssen es ertragen können, dass ihr Handeln kritisch beobachtet wird.
Ob der vom Observer intensiv beobachtete A44-Planer Mandamo Adler irgendwas mit dem Romanautor zu tun hat, ist vielleicht möglich, soll aber bzw. darf nicht wahr sein. Sonst könnte man der Romanfigur Mandamo unterstellen, vielleicht einiges aus seiner 43-jährigen Berufserfahrung imaginär einbezogen zu haben. Dabei müsste man dann außer Acht lassen, dass es hier nur um eine fingierte Romanhandlung geht.
Ohnehin geht es hier nicht nur um die A44. Der Leser durchwandert mit dem Observer nicht nur die nordhessischen Märchenlande. Inzwischen werden in anderen Teilen unseres deutschen Vaterlands Stücke aufgeführt, die noch mehr Potential zu Besorgnis, Unterhaltung und Erheiterung bieten. Zum Beispiel dort, wo einst so mutige Figuren wie die sieben Schwaben einem Scheusal nachjagten, das eigentlich nur ein harmloser Feldhase war. Heute hat man dort Angst vor Tsunamis und wandelt vorsorglich den Schwarzwald in einen Grünwald um. Die bizarren Vorgänge im vormals tüchtigen Schwabenländle lieferten weltweit Schlagzeilen und sind mit ihrer Dramatik natürlich geeignet, dem Stammland der Gebrüder Grimm den Rang abzulaufen. Insofern finden sie auch hier Erwähnung.
Zur mentalen Erholung und als Kontrast zu den seltsamen Vorgängen im Lande der Dichter und Denker werden in diesem Kompendium auch noch Gegenbeispiele betrachtet, die weniger absonderlich sind. Wir durchwandern dabei exotische Kulissen und sehen, dass es anderswo viele sinnvoll realisierte Großprojekte gibt, die sehr wohl einen guten Kompromiss zwischen Ökologie und Ökonomie aufzeigen.
Читать дальше