Märchen sind manchmal erschütternd brutal. Das mindert aber ihre Faszination nicht, sie werden immer wieder gern gelesen. Bis in unsere Tage. Es scheint sogar so, dass manche der gutgläubigen Menschen bestimmten Geschichten immer noch so viel Glauben schenken, wie einst, als sie auf Großmütterchens Schoß sitzend andächtig den Märchen der Brüder Grimm lauschten. Darf man daher vielleicht fragen, ob die hier geschilderten verheerenden Verhältnisse aus einem despotischen Sagenreich berichtet wurden und ob dieses untergegangen ist, wie viele andere Großreiche auch, die ihre fortschreitende Dekadenz nicht rechtzeitig bemerkt haben? Nun, so richtig vergleichen lassen sich die verschiedenen Staats- und Gesellschaftsformen alle nicht und so könnte es sein, dass es chimärenhafte Spätformen ähnlicher Reiche noch heute gibt.
So entstehen Märchenstraßen
Unter den besonderen Bedingungen des letzten Jahrtausends mussten im nordhessischen Märchenwald die anfangs euphorischen Wegeplaner wie Rumpelstilzchen ungeduldig von einem Bein aufs andere hüpfen. Sie führten ein recht wechselhaftes Leben zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Zuversicht und Skepsis, zwischen Optimismus und Pessimismus. Aus den vielen Possen entstand langsam eine Zwischenform, die man nach Auslaufen des Humanismus und des Realismus, den Possimismus nannte.
Beim Prozess der kontrollierten Bewegung (Vortrabhüpfer, Seitensprung, viele Arten von Rücksprüngen) waren stets auch mehrere Kutschenlenker beteiligt. Das sind wichtige Befehlsempfänger und Weitergeber von Parolen. Meist rief der Fürst nur knapp „Kutscher, beeil er sich“. Der musste das natürlich noch in operable Sprungbefehle für die Pferde umsetzen. Normalerweise hießen die nur hüh oder hott, links oder rechts, je nach Kurvenführung. Die hiesigen Kutscher und Kutschpferde haben aber noch einige mehr lernen müssen, z.B. hottehüh und hühott. Zudem versuchte der Mann auf dem Kutschbock manchmal mit Peitschenknallen und Einprügeln auf die armen Pferde eine Beschleunigung des trägen Karrens zu erreichen. Ganz oft kam es vor, dass er nicht gleich bemerkt hatte, dass der grüne Bremser hinten auf der Kutsche heimlich die Bremsbacken angezogen hatte.
Wenn nach bisweilen bürgerkriegsähnlichen Ereignissen (später nannte man das Wahlkämpfe) mal wieder andere Feudalherren in die Schlösser einzogen und daraufhin viele der vorher geltenden Zielvorstellungen urplötzlich und abrupt gewechselt wurden, gab es oft heftige Richtungsdiskussionen. Wie schon angerissen, wurden dabei die beiden Befehle hüh und hott fast gleichzeitig von den Kutschböcken herunter gerufen. Daraufhin wussten die irritierten Pferde natürlich nicht, auf welchem Wege sie dem eigentlich gut sichtbaren Ziel entgegen rennen sollten. So wie es in der Antike hieß „Viele Wege führen nach Rom“, so galt das auch für Kassel und Eisenach. Man konnte über Göttingen oder Hersfeld nach Eisenach fahren. Natürlich auch über Buxtehude oder Oberpfaffenhofen, wenn irgendjemand nicht wollte, dass der Insasse nach halbwegs angemessener Reisezeit ankommen sollte.
Auf den Kutschböcken saßen manchmal auch zwei Leute zusammen, die verschiedene Vorstellungen vom Ziel hatten. Das kommt auch heute noch vor und irritiert natürlich die Kutschpferde immens. Sie wurden und werden von den Peitschenknallern dauernd hin und her gerissen. Auf einen Zuruf ziehen Sie den schweren Wagen nach links, beim nächsten nach rechts. Dabei brechen sich die armen Tiere fast die Knochen.
Natürlich resultierten aus dieser merkwürdigen Kutscherei auch heftige Zeitplanprobleme. Wenn der eine Fürst "hüh" rief (er also nach links wollte), beobachtete dass der Landgraf vom anderen Schloss hämisch so lange, bis der Karren tief genug in den Dreck hinein gefahren war. Dann rief er plötzlich "hott hott hott!!!" und tat scheinbar überrascht, wenn der Befehl zum Richtungswechsel nun nicht so schnell ausgeführt werden konnte.
So weit erinnern sich ältere Mitbürger an die vergangenen Zeiten mit den wundersamen Ereignissen in diesem märchenhaften Hessenlande. Es gab damals wie heute viele Irrungen und Wirrungen, Holzwege und Irrwege, Umwege und Abwege, Scheidewege und Sackgassen. Bekanntlich haben sich Hänsel und Gretel kleinerheit mal im Walde verlaufen, aber auch in unserer Zeit kommt das noch vor. Die Trobadoure berichten des öfteren davon, wie rot und grün gewandete Truppen vor den Schlössern mit den schwarz-gelben Fahnen randalierten und rüde Einlass verlangten. Später war es dann umgekehrt. Schwarze und gelbe Banner- und Schwertträger rannten gegen die Tore, wo auf der Brüstung noch die roten und grünen Tücher wild im Winde herum flatterten. Ist ja auch egal. Der Bauer auf dem Felde sagte dazu, die Ställe bleiben sowieso dieselben, nur die Schweine darin wechseln ab und zu.
Und wenn die Hauptdarsteller mit ihren Fehleinschätzungen und Falschgängen nicht gestorben sind, so leben sie noch heute. Natürlich auch die von ihnen maßgeblich mitgestalteten Verhältnisse.
Nun aber wollen wir mal sehen, wie sich die Dinge aus Sicht der heutigen Bürger, Steuerzahler, Umweltplaner und Verkehrsplaner weiter entwickelt haben.
Der Volksmund sagt, an jedem Märchen ist was Wahres dran
Bekanntlich gibt es an alten Märchen keinen Nachschub mehr, denn die einst in Kassel wirkenden Brüder Grimm sind schon lange tot. Aber es gibt neue Märchenerzähler in riesengroßer Zahl. Welche, die mit gedrechselten Geschichten das Volk ruhig stimmen wollen, wenn es die fürstlichen Edikte hinterfragt und einige wenige, die sich auf wahre Hintergründe stützen. Quasi die Gegenspieler der Ausrufer im fürstlichen Auftrag.
Letztere fabulieren von den heutigen Märchenstraßen so klug und schlitzohrig wie einst der gestiefelte Kater auf den vormaligen Königsstraßen. Damit könnten die alten Geschichten eigentlich fast nahtlos fortgesetzt werden, aber auch die modernen Storys bedürfen der Übersetzung in ein verständliches Deutsch. Außerdem müssen viele der nachfolgend eingefügten Fachbeiträge in einigen wichtigen Punkten erklärt und öfter auch berichtigt werden. Nicht nur die des Barons von Münchhausen, der ja für die ulkige, aber nicht ganz wahrheitsliebende Klitterung seiner Geschichten bekannt ist.
So wie das hier von einem mystischen Beobachter, dem später noch öfter zitierten Observer, aus der Vogelperspektive gesehen wurde, scheinen sich die Dinge in dem fabelhaften Waldhessen tatsächlich zugetragen zu haben. Jedenfalls hat sich das unzähligen Menschen so ähnlich dargestellt. Aber das sind ja allesamt bloß dumme Laien. Die Experten der angedeuteten Institutionen sehen das alles natürlich völlig anders. Lassen wir sie mal der Reihe nach zu Wort kommen.
Auf die einst im Frühstadium der Planung vom Rumpelstilzchen untertänigst gestellte Frage, wie es denn eigentlich zu den merkwürdig gestalteten Wegeplanungen gekommen sei, fühlte sich Herr Oberschlaumeier vom Amt für Dingsbums und Sonstwas auf dem falschen Pferdefuss erwischt und ätzte darum zynisch, dass er seine Anordnungen zum Hüh und Hott natürlich stets aufgrund neuester wissenschaftlicher Forschungen befohlen habe. Das angeraunzte Rumpelstilzchen duckte sich unter den verbalen Peitschenschlägen und dachte bei sich, dass die Überstudierten vor lauter Bildung und Einbildung offenbar eher immer dümmer geworden zu sein scheinen. Bevor er aber von dem übermächtigen Herrn seines Waldes vertrieben wurde, stellte er dann lieber keine weiteren Fragen mehr.
Einigen der heutigen mittelgroßen Zampanos ward die vom fürstlichen Geheiß abweichende Sicht zeitweilig übel genommen. Aber zu Unrecht, denn die Ärmsten waren ja ihrerseits in den unterschiedlichsten Gestrüppen gefangen. In diese sind sie teils von den erzürnten Fürsten hineingescheucht worden, teils haben sie sich auch selbst hineinmanövriert, nachdem sie falschen Anstiftern gefolgt sind. Von den Hauptakteuren sind einige maßgebliche inzwischen pensioniert, anderen gelang es, sich dem Schlammassel zu entziehen, indem sie sich auf weniger verschleißende Stellen versetzen ließen oder sich sonstwie anderen Beschäftigungen zuwandten.
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