„Vielleicht“, überlegte Socke, „war das gar nicht sein Ziel. Vielleicht wollte er ganz was anderes. Vielleicht wollte er seine … oh nein, es ist zu schrecklich, um es zu sagen. Du weißt so gut wie ich, dass die Quelle nicht unterscheidet, für welche Zwecke sie benutzt wird. So funktioniert das nun Mal nicht. Sonst hätten wir doch den ganzen Schlamassel nie gehabt.“
„Mumpitz!“, entschied Driftwood. „Was soll ich machen? Womit fang ich an?“
„Mit was Kleinem“, beschwor Socke, „was Kleines. Versuch die Wollmaus.“
Driftwood stutzte. „Was, die Wollmaus? Hier draußen? Ein Windstoß und wir können den Rest der Nacht meinen Kopf suchen. Das ist Murks, Socke, großer Murks ist das.“
„Dann die dunkelste Nacht“, schlug Socke aufgeregt vor. Driftwood schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber es ist bereits ziemlich dunkel hier.“ „Aber ein paar Sterne leuchten hell am Himmel. Und das Mondlicht?“
„Pah, die paar kläglichen Funzeln. Das hätte doch gar keinen Effekt bei all den Wolken. Nein, wir brauchen etwas mit einem eindeutigen Ergebnis. Ich will wissen, wo wir stehen. Ich weiß was. Warte hier!“
Blitzschnell verschwand Driftwood zwischen den Bäumen. Nachtalben können sich sehr schnell bewegen, wenn sie wollen. Dass Driftwood dabei ein gewaltiges Getöse veranstaltete, kam daher, dass er sich einfach keine Mühe gab, leise zu sein. Socke blieb allein zurück. Er wippte unruhig von einem Bein auf das andere. Obwohl Nachtalben in der Dunkelheit sehen, war Socke nachts nicht gern alleine. Driftwood hingegen war sich sicher, dass er es war, vor dem man Angst haben sollte in der Dunkelheit. Er zertrat jeden morschen Ast und schlurfte durch jeden trockenen Laubhaufen. Dabei fluchte er so laut, dass Socke ganz rote Ohren bekam. Driftwoods Taktik war, sich wie eine Gruppe von riesig großen und völlig wahnsinnigen Trollen aufzuführen. Darum machte er stets beeindruckend viel Krach und hinterließ so auffällige Spuren, dass jeder mögliche Verfolger denken musste, dass hier etwas vorbei gekommen war, das es überhaupt nicht nötig hatte, leise zu sein. Wer wäre da nicht gewarnt gewesen. Als er kurz innehielt, um sich zu orientieren, stieg ihm ein fauliger Geruch in die Nase. Er hatte gefunden, was er suchte. Es war ein toter Hund. Zumindest glaubte Driftwood das. Das arme Tier lag schon so lange am Fuß eines Baumes, dass nicht mehr eindeutig zu erkennen war, worum es sich zu Lebzeiten gehandelt haben könnte. Selbst die Maden, die sich über den Kadaver hergemacht hatten, waren schon zu Fliegen herangewachsen und hatten eigene Familien gegründet.
„Genau, was ich suche“. Driftwood packte den Kadaver am Schwanz, oder an dem, was er für den Schwanz hielt, und schleifte ihn hinter sich her. Er betrat die Lichtung und ließ seine Beute stolz neben sich in den Staub fallen. Socke schaute angewidert drein.
„Oh, Driftwood, ich bitte dich.“
„Was denn? “, erwiderte Driftwood verständnislos.
„Was denn? Das ist schon viel zu lange tot.“
„Das kannst du nicht beweisen.“
„Aber es hat nur noch ein Auge. Und die Hinterläufe hast du da hinten verloren.“
„Die brauch ich nicht.“
„Und es hat keinen Unterkiefer. Und da zwischen seinen Rippen sitzt jemand und schaut mich an.“
„Na lass ihn doch gucken.“ Driftwood rieb sich die Pfoten. „Ich kann es schon fühlen. Das wird ein Spaß.“
Der wahnsinnige Unterton ließ Socke erschaudern. Die beiden kannten sich eine Ewigkeit, und Socke wusste nur allzu gut, dass der größtmögliche Ärger meist so begann.
„Drift“, beschwor Socke, „ich bitte dich. Du kannst doch nicht ernsthaft mit Nekromantie beginnen. Das ist gefährlich. Das arme Tier ist mausetot, und das schon sehr lange. So was verschmutzt die Quelle. Und die natürliche Ordnung allen Seins. Der Meister wird das nicht gutheißen.“
„Humbug. Wir müssen wissen, wo wir stehen, Freund Socke.“
Driftwood betrachtete das tote Tier zu seinen Füßen. Die Würmer, die es sich in dem faulen Fleisch gemütlich gemacht hatten, krochen eilig davon. Ihnen schwante Böses, und sie hatten recht. Denn schon riss Driftwood die Arme in die Luft. Sein Fell sträubte sich, und seine Füße versanken im Boden. Socke wusste, was jetzt kam. Diesen Teil mochte er überhaupt nicht. Kopfschüttelnd entfernte er sich, ohne Driftwood aus den Augen zu lassen.
„Der Meister wird das nicht mögen.“ Socke duckte sich hinter einem Baumstumpf, sodass nur noch seine Ohren zu sehen waren. „Nicht mögen wird er das!“
Das Braun in Driftwoods Augen geriet in Bewegung. Wie trübes Wasser floss es über seine Wangen. Seine Pupillen wuchsen und strahlten tiefschwarz. Doch dann keuchte er angestrengt. „Socke?“
Socke schaute über den Baumstumpf. „Ja?“
Rauch entwich Driftwoods Augen. Er bemühte sich um einen gelassenen Ton. „Ich weiß nicht weiter.“
Zögerlich kam Socke aus seinem Versteck hervor. „Das ist ein ganz schlechter Augenblick für eine Pause, Drift. Du hast bereits die Elemente angerufen. Und das, wie ich bemerken möchte, nicht besonders freundlich. Wenn du ihre Kraft zu lange in dir staust, wirst du explodieren.“ Für so einen Unsinn war Socke am Ende eines langen Tages nun wirklich nicht mehr zu haben.
„Socke, bitte“, jammerte Driftwood.
„Schon gut. Ruhig Blut. Konzentriere dich weiter auf dein Ziel. Und dann sagst du den Spruch und fertig.“ Socke klatschte in die Pfoten und ließ sich gequält lächelnd auf dem Baumstamm nieder. „Aber“, er sprang wieder auf, „warum qualmst du?“
„Ich habe den Spruch vergessen.“
„Ach, Drift. Du musst dir schon vorher überlegen, was du willst. Das weiß doch jeder Zauberlehrling. Ich kann dir den Spruch nicht einfach so vorsagen. Dann weiß die Magusch gar nicht mehr wohin. Ein ungeplanter Übersprung und wir explodieren beide. Du musst einfach mal lernen, dich zu konzentrieren. Da reden wir noch drüber.“ Socke konnte in Gefahrensituationen ein erstaunliches Sprechtempo entwickeln. Nachdenklich schaute er auf seine Füße, dann auf den qualmenden Driftwood, dann in den Nachthimmel.
„Ich weiß was.“ Er zog seine Umhängetasche über den Kopf und legte sie ordentlich ab. Seine Stimme war jetzt ganz ruhig. „Ich weiß, was zu tun ist, Drift. Hab keine Angst. Ich werde die Kraft für dich kanalisieren.“ Und bevor Driftwood protestieren konnte, umklammerte Socke ihn fest mit beiden Armen und rief:
„Der Elemente Kraft entfacht.
Die Macht die Welten heilt.
Dein Diener hat es falsch gemacht,
zu viel Magusch verweilt.
In seines Körper Fasern nun,
schwirrt, saust und will ihr Werk nun tun.
Drum ruf ich sie zu mir, zu mir,
das Gute zu vollenden.“
Und die Magusch verließ Driftwoods Körper. Sie rauschte unkontrolliert in alle vier Himmelsrichtungen davon. Wie Polarlicht schwebte sie über dem Wald. Socke ließ von Driftwood ab, streckte die Arme in die Luft und rief: „Komm zu mir!“ Die Magusch kreiselte wild und sauste auf ihn zu. Die Wucht des Aufpralls zwang Socke in die Knie. Ein nicht enden wollender Strom ungezähmter Magusch prasselte auf ihn nieder. Wie unter wuchtigen Schlägen zuckte sein schlanker Körper. Doch mit einer Stärke, die nur einem unbezähmbaren Willen entspringen kann, kämpfte er sich wieder auf die Füße.
„Ich bin jetzt dein Meister“, flüsterte er. Sofort hörte es auf. Driftwood fiel um. Sockes Fell sträubte sich und ein elektrisches Flirren lag in der Luft. Er hatte die Magusch aufgesaugt wie ein Schwamm. Er legte eine Pfote auf den toten Hund. „Agore.“
Der Kadaver geriet zuckend in Bewegung. Er hob ab und schwebte, wobei er rotierte wie ein grün leuchtender Ball aus rohem Fleisch. Socke entspannte sich mit einem Seufzer. Die Magusch hatte ihren Dienst getan.
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