„Oh, ich würde schätzen, so um die …“
Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Um sie herum sprangen alle von ihren Stühlen. Lana und Tinka standen auf und verschwanden im Gewühl. Viele stiegen auf Tische und Bänke. Auch Rolo und sein Vater versuchten, zwischen der wogenden Menge hindurch einen Blick auf das Schiff zu werfen. Hallimasch lehnte sich lächelnd zurück und nippte an seinem Wein. Irgendwo weit vorne, in der Nähe des Ufers, begann jemand einen langsamen Rhythmus zu klatschen. Vereinzelte Rufe wurden laut. Rolo verstand die Worte nicht. Ein zweiter Klatscher stieg in den ruhigen Takt ein, dann ein dritter. Wie ein Lauffeuer im trockenen Gras verbreitete das Klatschen sich über den Platz. Plötzlich erstarrte die Menge. Auf dem Achterdeck stand eine verschleierte Frau.
„Oje, dieses Jahr erscheint sie ganz in Schwarz“, raunte Onno.
Rolo nickte lächelnd, verstand allerdings nicht den Anlass für Onnos Kummer. Er streckte sich, um die Dame vom See genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr Kleid war aus schwarzer Spitze in einem wallenden Schnitt. Die Ärmel waren eng, wurden nach unten trompetenförmig weiter und verhüllten ihre Hände. Ein Schleier aus dem gleichen Stoff verdeckte ihr Gesicht bis auf die Augen. Rolo fand das alles sehr hübsch, aber er sah keinen Grund zur Aufregung.
„Sehen wohl nicht so oft Laienschauspieler hier“, flüsterte er seinem Vater ins Ohr. Der seufzte und nickte.
„Ja, so sind sie.“
„Die Beleuchtung ist spitze. Ich sehe überhaupt keine Fackeln oder Scheinwerfer, aber sie ist gut ausgeleuchtet. Hast du schon irgendwo Tante Farrah entdeckt?“
Sein Vater deutete zum Schiff.
„Was?“, platzte es aus Rolo heraus.
„Ruhe!“, forderte Onno.
Dann begann sie zu sprechen. „Wisst ihr noch, wer ich bin?“ Ihre Stimme erklang laut und deutlich über den Platz. Rolo schaute nach versteckten Lautsprechern, entdeckte aber nichts.
„Du bist die Bendith Geserith“, antwortete die Menge. „Richtig, das bin ich. Und wisst ihr auch noch, was ich bin?“
Wie aus einem Mund kam die Antwort: „Du bist die Herrin des Tals, des Sees, der Berge und Wälder. Du bist die Hüterin des Landes. Du bist die Mutter des Samens, der Nuss und des Schösslings.“
„Fürwahr, so ist es. Und wisst ihr auch noch, wo ich bin?“ „Du fließt, du schwebst, du webst, welkst und vergehst. Du bist überall.“
„Ja, so ist es. Ich sehe, ich bin unter Freunden.“
Langsam ließ sie ihren Blick von einer Seite des Platzes zur anderen schweifen.
„Wie jedes Jahr um diese Zeit gratuliere ich euch zu einer großartigen Ernte, meine Freunde. Wieder arbeitete die gesamte Dorfgemeinschaft Hand in Hand zum Wohle aller. Ich freue mich, dass sich so gut wie alle rege beteiligt haben. Und manch einer ist wirklich über sich hinaus gewachsen. Doch dazu später. Leider gibt es auch einige Tadel zu verteilen. Lasst uns damit beginnen. So bewegen wir uns vom weniger Schönen zum Guten. Der Schmied Schmottke hat sich in diesem Jahr bei der Berechnung seiner Preise wohl um eine Null vertan. Schmottke, du hast nichts gewonnen, wenn die Bauern sich deine Sensen nicht mehr leisten können. Wo kaufst du dann dein Brot, wenn niemand Getreide erntet, niemand Mehl mahlt, niemand Brot backt?“
Ein Raunen ging durch die Menge. Viele schüttelten empört den Kopf.
„Der geschätzte Schuster Rappen hat hingegen in diesem Jahr am falschen Ende gespart. Seine Schuhe waren mit weniger Fäden genäht als eine Kohlroulade beim Wirt Pint. Werter Rappen, es bringt dir nichts, wenn deine Freunde und Nachbarn ständig wegen Reparaturen zu dir kommen. Kurzfristig mag deine Kasse klingeln, aber du wirst nur die Preise aller Waren im Ort hochtreiben. Die Baumfäller können kaum barfuß in die Wälder, wie auch die Boten ungern barfuß die Briefe austragen. Möchtest du, dass die Zimmerleute sich Splitter laufen und nicht mehr arbeiten können?“
Rolo dachte an die armen Leute, die öffentlich angeprangert wurden und bestimmt auch hier zwischen ihren Freunden, Nachbarn und Familien saßen. Aber es erschien ihm auch sinnvoll und richtig, was die schwarze Frau zu sagen hatte. „Kommen wir nun zu den Geschäften des würdevollen Bürgermeisters Mocke. Nach dem stürmischen Beginn seiner jüngsten Amtszeit …“
Jemand zupfte Rolo am Ärmel. Er schaute sich verwundert um und sah Tinka. Oder Lana. Er konnte die beiden rothaarigen Mädchen, die auch noch fast das gleiche Kleid trugen, nicht unterscheiden. Der Blick ihrer klaren Augen ging ihm durch Mark und Bein. Um seine Verlegenheit zu überspielen, neigte er rasch den Kopf und brachte sein Ohr nah an ihren Mund. Mädchen waren ihm ein Rätsel, mit ihren Launen und ihrem seltsamen Gehabe. Ein Rätsel, dessen Lösung ihm der Mühe nicht wert schien. Warum dieser Moment ihn so kalt erwischte, wusste er nicht. Noch oft sollte er sich daran erinnern.
„Ist das nicht irre? Gefällt es dir hier?“, fragte sie.
„Ja, ist toll. Aber auch irgendwie abgefahren. Wer ist die?“ „Das ist nicht die, sondern die Bendith Geserith“, lachte das Mädchen. „Sie kommt einmal im Jahr und sieht nach dem Rechten. Da wird dann gelobt und viel gemeckert. Besonders habgierige Handwerker und Händler sind ihr ein Dorn im Auge. Jetzt geigt sie gerade dem Bürgermeister die Meinung.“
„Den Bürgermeister? Aber der ist doch das Oberhaupt der Stadt?“
„Klar, aber er ist auch ein gewählter Vertreter der Bürger. Da muss man ihn manchmal dran erinnern. Außerdem wird sie gleich berichten, was wir vom nächsten Jahr zu erwarten haben. Ich weiß genau, was du jetzt fragen willst. Ich weiß auch nicht, woher sie das alles weiß.“
„Abgefahren. Und das Gedicht, das ihr vorhin alle zusammen aufgesagt habt?“
„Gedicht? Du meinst die Losung. Das ist ein alter Vers. Wer den nicht kann, der ist nicht aus Neunseen. So konnte die Bendith Geserith früher herausfinden, ob sich keiner eingeschlichen hat, der hier nicht hingehört.“
„So wie ich. Hier gibt es viele seltsame Leute.“
„Findest du? Wo denn?“
„Na ja, eigentlich überall. Da gibt es diese langhaarigen Großen mit den Gewändern. So ein bisschen wie Karneval und Mittelaltermarkt.“
„Das kenn ich nicht. Aber ehrlich gesagt bist du der Einzige, der hier seltsam angezogen ist.“
Rolo entging ihr pikierter Ton nicht.
„Oh, nein, versteh mich nicht falsch. Ich finde es toll. Aber eben ganz anders als da, wo ich herkomme. Da tragen eben alle“ – er schaute an sich herab - „Jeans und T-Shirt.“
„Das ist aber ganz schön langweilig. Pst, jetzt kommt gleich der spannende Teil.“ Mit diesen Worten wandte sie sich von Rolo ab und gesellte sich zu einer Gruppe kichernder Mädchen.
Rolo seufzte und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Er vermied es, seinen Vater anzugucken, den er aus dem Augenwinkel breit grinsen sah. Rolo schaute verlegen zum Himmel rauf, nur um irgendwo hinzuschauen. Inzwischen war es dunkel, und keine Sterne waren zu sehen hinter dichten grauen Wolken. Leichter Regen setzte ein.
„So weit zum Rat der Stadt“, sagte die Bendith Geserith. „Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu. Bitte nehmt Platz, meine Freunde. Es war ein wundervoller früher Frühling nach einem sehr schneereichen Winter. Doch haben alle Dächer dem Schnee standgehalten. Leider haben die hungrigen Wölfe den Lämmern übel mitgespielt. Der Bürgermeister wird die Neolinga bitten, die Wolfsjagd im Sommer fortzusetzen, wenn die Welpen aus dem Gröbsten raus sind. So traurig das Töten von Tieren ist, ist es doch ein notwendiges Übel. Außerdem wird es den werten Herrn helfen, die verstaubten Knochen etwas auf Trab zu bringen.“
Die Menge lachte.
„Wir befinden uns seit so langer Zeit im Frieden, dass kaum noch jemand die Jahre zählt. Nicht immer waren die Neolinga nur zur Jagd da. Vergesst nicht, warum die Neolinga einst die Farralot von den Farindor übernommen haben. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den unerschöpflichen Eifer unseres verehrten Schulleiters Adalar. Steh ruhig auf, mein Freund. Ich sehe dich doch.“
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