1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 „Was hat der Kapuzentyp denn für ein Problem?“, ärgerte er sich. Aber noch mehr überraschte ihn die Autorität in Hwarfs Worten. Hwarf war kein alter Spinner oder ein entflohener Irrer. Er war wirklich der Herr der Nachtwehr. Kjeir verneigte sich und schlug die Kapuze zurück. Er war schlank und von der Sonne gebräunt. Sein blondes Haar war zu einem langen Zopf gebunden. Einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Seine Augen waren stahlblau und mandelförmig. Rolo gefiel es überhaupt nicht, wie Kjeir ihn musterte. Es lag aber auch eine Ernsthaftigkeit in Kjeirs Aussehen, die ihn faszinierte.
Der sieht aus, als wäre er mit allen Wassern gewaschen. Dabei ist er kaum älter als ich.
Kjeir verbeugte sich. „Willkommen in Neunseen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Der Gebirgspass kann etwas unangenehm sein für Städter.“
Kjeirs arrogante Art, seine geschwollene Art zu reden, machten Rolo wütend. Paps legte Rolo die Hände auf die Schultern. Rolo war überrascht ob dieser ungewohnten Geste, aber sie gefiel ihm.
„Vielen Dank“, erwiderte Paps kühl. „Die Fahrt war ein Kinderspiel.“
Hwarf trat zwischen sie. „Der gute Kjeir wird in meiner Abwesenheit die Wache beaufsichtigen. Ich möchte umgehend informiert werden, falls sich hier was tut.“
Kjeir nickte. „Wie Ihr wünscht, Meister Hwarf.“
„Natürlich nur“, ergänzte Hwarf lachend, „solange ich noch imstande bin, ganze Sätze zu verstehen.“ Er machte wieder die glucksenden Geräusche. Kjeirs Miene blieb versteinert. Hwarf wandte sich den Blutguts zu.
„Ihr müsst wissen, der gute Kjeir hier ist ein hervorragender Schütze. Und dabei hat er eben erst das erste Schuljahr hinter sich gebracht. Somit ist er gerade im Rang eines Findlings. Aber er hat sich bei allen Gelegenheiten großartig hervorgetan. Aber das wundert niemanden. Kjeirs Vater ist einer der Neolinga. Wie war noch gleich sein Name?“
„Dorn“, sagte Kjeir. „Dorn von Duular“.
Ein Anflug von Unbehagen veränderte Hwarfs Miene. „Ach ja. Ich wieder. Die Familie von Duular lebt in Neunseen seit ewig und drei Tagen. Kjeir, in welcher Generation lebt deine Familie hier?“
„In der 27. Generation.“ Kjeirs Stimme troff vor Stolz.
Rolo war genervt. „Da seid ihr aber nicht besonders rumgekommen, wenn deine Familie schon so lange in diesem Nest hockt“, stichelte er.
Kjeirs Miene verfinsterte sich. Seine Stimme war ein eisiger Hauch. „Nest? In diesem Ort haben sich Geschichten abgespielt, von denen du nicht die leiseste Ahnung hast, Stadtkind.“
„Stadtkind?“ Rolo lachte überheblich. „Bei mir zuhause wäre dir ein Platz in der Mädchenvolleyballmannschaft sicher.“ Kjeir ging einen Schritt auf Rolo zu. „Meine Familie hat Ozeane bereist, von denen du noch nicht mal gehört hast, Stadtkind. Und wenn du irgendein Problem mit mir hast, können wir das gleich hier und jetzt klären.“
„Ich schlage keine Mädchen“, erwiderte Rolo und reckte Kjeir das Kinn entgegen.
Paps umfasste von hinten Rolos Nacken. „Jungs, jetzt ist es aber genug. Wir hatten eine lange Reise. Tut mir leid. Und meinem Sohn tut es auch leid.“
Er schüttelte Rolo. Rolos Blick jedoch verriet, dass es ihm nicht im Geringsten leidtat. Kjeir griff zu seinem Bogen. Hwarf fuhr dazwischen.
„Jetzt schlägt es aber dreizehn! Dass du hier Wache schieben darfst, verdankst du nur deinen guten Leistungen und der Fürsprache deines Vaters. Aber wir haben uns wohl getäuscht. Offensichtlich hast du noch lange nicht die Reife, die ein Mitglied der Nachtwehr mitbringen muss. Diese kindische Prahlerei. Du benimmst dich wie ein Gockel. Ich bin wirklich enttäuscht. Gib mir den Bogen!“
„Aber Meister Hwarf“, stammelte Kjeir.
„Gib mir den Bogen!“, beharrte Hwarf.
Kjeir nahm den Bogen von der Schulter. Die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Dafür wird mein Vater dich …“
„Dein Vater wird mich was?“ Hwarf baute sich vor Kjeir auf, die massigen Arme in die Hüften gestemmt. „Überhaupt nichts wird er. Schämen wird er sich für dein Verhalten!“
„Aber Hwarf“, versuchte Rolo zu schlichten. „Ich wollte nicht …“
„Nein“, winkte Hwarf ab, „das tut jetzt nichts zur Sache. Von einem Nachtwehrer kann und muss ich mehr erwarten.“ Und dann brach er Kjeirs Bogen über dem Knie entzwei und ließ die Teile in den Straßenstaub fallen. „So. Ich denke, alles Weitere werden wir in der Schule besprechen. Für heute ist dein Dienst beendet. Geh zum Fest, wie alle anderen auch.“
Kjeir hob den zerbrochenen Bogen auf. Hasserfüllt blickte er erst zu Hwarf, dann zu Rolo.
“Du!“, keuchte er. „Du!“ Er warf die Bruchstücke seines Bogens nach Rolo.
„Kjeir!“, brüllte Hwarf, „jetzt ist es aber genug!“
Doch Kjeir hörte nicht. Er drehte sich um und rannte durch das Stadttor davon.
Hwarf schaute ihm kopfschüttelnd hinterher. „So ein Heißsporn. Ich befürchte, er ist ganz der Vater.“ Er zuckte mit den Schultern. „Genug davon. Es tut mir wirklich leid, dass es dazu kam.“
Paps wollte etwas sagen, doch Hwarf fuchtelte mit der Bärentatze vor seiner Nase herum. „Nein, papperlapapp, genug davon. Wir gehen jetzt feiern. Außerdem wollt ihr doch bestimmt endlich eure Tante begrüßen.“
Paps seufzte. Rolo war ein wenig erschrocken. Er schaute auf den zerbrochenen Bogen. Wenn hier jeder eine Waffe zückt, wenn man sich streitet, werden das aufregende Ferien, dachte er.
„Kompanie Blutgut hier lang“, rief Hwarf. Schon marschierte er lachend los.
„Und wer hat jetzt das Kommando?“, flüsterte Rolo seinem Vater zu. Der zuckte nur mit den Schultern.
„Nicht trödeln“, rief Hwarf.
Die Blutguts nahmen ihr Gepäck und folgten ihm. Die Straße war leicht abschüssig. Rolo musste aufpassen, dass er nicht über das unebene Kopfsteinpflaster stolperte. Er schielte neugierig um jede Ecke. Die Stadt war wie ausgestorben. Von Weitem hörten sie Stimmgewirr. Hwarf marschierte stramm vornweg und beschleunigte seinen Schritt.
„Kommt, ihr Blutguts. Ich habe Durst.“
Sie bogen in eine Straße, wo die Häuser weniger hoch waren. Dafür hatten sie lange Schornsteine und große Schaufenster. Über den Türen waren Schilder aus Holz oder Messing angebracht, die den Namen und das Gewerbe des Handwerkers angaben. Liebend gern hätte Rolo sich die Auslagen in den Fenstern angeschaut. Doch er musste sich beeilen, um den Anschluss nicht zu verlieren.
„Das geschäftige Viertel ist heute dicht“, rief Hwarf. „Weiter!“
Sie bogen um eine weitere Ecke. Hier führte eine breite Allee hinab zum See. Der Hafen schien voll mit Menschen. Jetzt beeilte sich Rolo auch. Die Straße war von Fahnen und Wimpeln gesäumt, die von Haus zu Haus gespannt waren. Die Blutguts hörten Musik, als sie sich dem Festplatz näherten. Der Klang von Fiedeln, Flöten und Trommeln wehte ihnen entgegen. Sie verfielen in einen leichten Trab. Dann öffnete sich der Platz vor ihnen. Zahllose Marktstände waren mit Fackeln und Lampions dekoriert. Lauthals priesen die Verkäufer ihre Waren an. Töpferwaren, Schnitzkunst und allerlei Handwerkszeug. Zur Seeseite offen, begrenzten prächtige Häuser den Platz stadteinwärts. Aus den hohen Fenstern schauten die Bewohner über das Getümmel, während in den Erdgeschossen Schenken oder Cafés lagen. Geschickt jonglierten die Kellner riesige Tabletts zwischen den voll besetzten Tischen. Auf verschiedenen Bühnen wurde musiziert oder gezaubert. Die Leute tanzten ausgelassen und klatschten im Takt der Musik. In den Bäumen kletterten Kinder wie übermütige Affen herum. Aber das Sehenswerteste waren in Rolos Augen die Neunseener selbst. Zwar trug außer Hwarf niemand ein Bärenkostüm, trotzdem war er sich nicht sicher, ob sie nicht doch verkleidet waren. Die Frauen trugen wallende Kleider mit Spitzen und Rüschen, dazu riesige Hüte mit Schleiern und Federn. Ihre Begleiter waren mit Anzügen und Zylindern ausstaffiert. Alle waren bewaffnet. Krummsäbel und lange Messer steckten in Halftern, die am Gürtel getragen wurden. Viele musterten die Blutguts neugierig, schauten aber schnell weg, wenn sie ihren Blicken begegneten.
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