Auf dem Weg zu Kolbrinks Haus schwiegen sie. Holger konzentrierte sich auf die Straße, aber sein angespanntes Gesicht und die Knöchel an seiner Hand, die weiß hervortraten, als sie das Lenkrad des Mercedes umklammerten, sprachen für sich.
Sondra hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich auf den Geruch des Leders der Autositze. Sie zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte.
Holger Kolbrink bemerkte das leichte Lächeln, als Sondra das Display las und ran ging.
„Hallo, Andreas….Ja, ich bin in Ordnung. Mir ist nichts passiert….Ich übernachte bei Holger und seiner Frau….Morgen?...Ja, okay. Ich muss morgen früh noch eine Aussage auf dem Revier machen, aber morgen Nachmittag könnten wir uns treffen….Bei dem Italiener von neulich?... Gut. Also bis morgen.“
„Andreas Laurenz mag dich wirklich“, sagte Holger Kolbrink.
„Ja. Kann schon sein.“
„Warum war er nicht bei dem Polizeiaufgebot?“
Sondra musste wieder lächeln, bereute es aber gleich, da ihr Gesicht höllisch wehtat.
„Andere Abteilung. Wenn er gekommen wäre, hätte es eine Leiche gegeben.“
Sie schwiegen wieder. Sondra hörte an Holgers Atmung, dass er mit sich kämpfte.
„Spuck es aus“, forderte sie ihn auf.
„Warum hast du Gregor überhaupt ins Haus gelassen? Bist du so leichtsinnig? Was sollte das?“
Sondra seufzte. „Ich weiß auch nicht. Ich hatte diese kleine Idee, dass er vielleicht bereit sein würde, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe diesen Glauben, das in jeden Menschen etwas Gutes steckt.“
Wieder Schweigen.
„Auch in Menschen der Familie väterlicherseits. Dieser Fehler wird mir nicht noch einmal passieren“, schloss sie.
Sie gelangten an die Sondra so vertraute Toreinfahrt zu dem Grundstück der Kolbrinks.
„Du wirst dein Gesicht kühlen müssen. Brauchst du eine Schmerztablette?“
Sondra verneinte. An der Haustür wartete schon Renate Kolbrink. Sie war der absolute mütterliche Typ. Etwas klein, etwas untersetzt und immer um alles bekümmert.
Sondra liebte diese Frau wie die Mutter, die sie nie hat kennen lernen dürfen.
Sanft nahm Renate Kolbrink Sondra in die Arme, führte sie hinein und brachte sie in das Gästezimmer, das immer für sie bereit stand.
>Ich blöde Gans<, schimpfte Sondra mit sich selbst, als sie später im Bett lag. Eiswürfel waren in Küchenhandtücher gewickelt und sie legte sie sanft auf ihr Gesicht.
Kurz bevor sie vor Erschöpfung einschlief, dachte sie noch an Andreas und seine sanften braunen Augen.
Den nächsten Vormittag verbrachte Sondra damit, auf dem Polizeirevier eine Aussage zu machen und Anzeige gegen ihren Cousin Gregor Baier zu stellen. Holger Kolbrink hatte ihr einen Strafverteidiger zur Seite gestellt, der mit Gewaltdelikten vertraut war.
„Ich bin zwar auch Anwalt, aber im Strafrecht kenne ich mich nicht mehr so aus. Sandmann ist genau der Richtige für dich, Sondra“, hatte Holger gesagt.
Sondra war gerade mit dem ganzen Papierkram fertig und wollte eine Unterschrift setzen, als eine durchdringende Stimme ihren latenten Kopfschmerz wieder hochfahren ließ.
Die Beschimpfungen, die Gisela Baier über Sondra ergoss, hätten so manche Bordsteinschwalbe der Reeperbahn erröten lassen. Sondra biss sich auf die Zunge, weil sie sich die Antworten einfach ersparen wollte. Thomas Sandmann, ihr Anwalt, ermahnte Gisela jedoch immer wieder, dass jede Beleidigung ihrerseits eine strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen würde. Gisela war aber so hysterisch, dass Vernunft bei ihr abprallte.
Sondra konnte Gisela sogar ein bisschen verstehen, schließlich war Gregor Giselas Sohn und ihr Junge war in Schwierigkeiten. Nur war er erwachsen und inzwischen für seine Handlungen definitiv selbst verantwortlich.
Seufzend unterschrieb Sondra ihre Aussage und die Anzeige. Dann stand sie auf, nahm ihre Jacke und ging mit ihrem Anwalt aus dem Polizeirevier.
„Nette Verwandte haben Sie. Kolbrink hat mich ja schon gewarnt, aber die Live-Show war beeindruckend“, sagte er.
Sondra grinste, bereute es aber gleich wieder, da ihre rechte Wange höllisch wehtat.
Thomas Sandmann war Anfang dreißig und machte den Eindruck, als ob er Anwalt mit Leidenschaft war. Er wirkte nicht unbedingt wie jemand, der auf den Paragraphen herum ritt und das BGB und das StGB als Bibel betrachtete. Der Ring an seinem rechten Ringfinger war mehr als deutlich und innerlich seufzte Sondra deshalb ein wenig.
>Mann, musst du das nötig haben<, dachte sie.
„Kolbrink hat mir erzählt, dass sie verreisen wollten. Diese Pläne müssen Sie jetzt um mindestens einen, vielleicht sogar zwei Monate verschieben.“
Sondra wurde abwechselnd kalt und heiß. „Das geht nicht, ich … ich muss verreisen. Ich werde erwartet.“
Thomas Sandmann schüttelte den Kopf. „Ich versuche den Prozess so schnell als möglich zu bekommen oder auf das nächste Frühjahr zu verlegen. Ich weiß trotzdem erst in zwei bis drei Wochen - frühestens -, wann der Termin sein wird.“
Sondra überlegte und setzte sich ihre dunkle Sonnenbrille auf. An diesem trüben Septembertag war das eigentlich nicht nötig, aber Teile ihres Gesichtes nahmen langsam eine Färbung an, die man mit der Palette eines Malers vergleichen konnte.
„In Ordnung“, sagte sie. „Versuchen Sie den Termin ins nächste Frühjahr zu verlegen. Ich muss diese Reise machen und werde einen oder zwei Monate weg sein. So bin ich dann garantiert zum Prozess wieder hier. Aber der Patriarch wird wahrscheinlich alles versuchen, um den Prozess entweder vorzuverlegen oder gar nicht stattfinden zu lassen.“
„Sondra!“
Die vertraute Stimme ließ sie lächeln. Andreas Laurenz kam gerade aus dem Gebäude raus. Sein Gesicht wirkte ein wenig besorgt und seine Augen blickten prüfend in ihr Gesicht.
Sondra machte die beiden Männer kurz miteinander bekannt.
„Wir sind ja soweit durch, Frau Wieland. Meine Karte haben Sie ja. Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt oder unklar ist, melden Sie sich bei mir, ja?“
Sondra fiel auf, das er das Wort ´Ja` gerne benutzte.
Beim Italiener suchte Sondra sich eine stille, kaum einsehbare und dunkle Ecke aus. Als ihr Wasser kam, fischte sie die Eiswürfel aus dem Glas, wickelte sie in die Serviette und presste das ganze gegen ihr Gesicht.
„Lassen Sie mal sehen“, forderte Andreas sie auf.
„Ich glaube, dass haben Sie in Ihrem Beruf schon mehrfach gesehen.“
Andreas Laurenz gab einen unbestimmten Laut von sich, griff über den Tisch und nahm Sondra sanft die Brille ab. Scharf zog er die Luft zwischen den Zähnen ein und schluckte krampfhaft. Vorsichtig setzte er die Sonnenbrille wieder auf Sondras Nase.
„Was ist passiert?“, fragte er leise.
Sondra erzählte noch einmal, was passiert war. Sie merkte auf einmal, dass es ihr jetzt schwerer fiel als vorher auf dem Polizeirevier. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute, aber sie beherrschte sich.
Andreas sah erneut ein Leuchten auf der Haut von Sondra, aber diesmal war es anders. Es wirkte eher dunkel, traurig. Verwirrt blinzelte der Kommissar.
„Ich könnte mich jetzt noch ohrfeigen, weil ich Gregor ins Haus gelassen habe“, sagte sie zwischen zwei Bissen gebratene Leber.
„Ich habe das mit der Fahrerflucht recherchiert. Die Frau, die Gregor damals angefahren hatte, hat zwar überlebt, muss aber für den Rest ihres Lebens im Rollstuhl sitzen. Das bedeutet, da kommt ein weiterer Prozess auf Gregor Baier zu. Da kann auch der Patriarch nicht viel machen.“
Andreas steckte sich das letzte Stück Thunfischsteak in den Mund und kaute geistesabwesend.
„Woran denken Sie?“, fragte Sondra nach einer Weile.
„An Ihre Reisepläne.“
Sondra runzelte die Stirn. Sofort zog ein heftiger Kopfschmerz von ihren Schläfen in den Nacken. Sie musste wohl einen Laut von sich gegeben haben, denn Andreas griff ihre Hand.
Читать дальше