1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Als mein Zustand stabil schien, flog mein Vater mit seiner Freundin nach China. Neben meiner Mutter, die so oft sie konnte, bei mir war, war er meine zweite Stütze.
Er war nun nicht da, als die Situation eskalieren drohte.
Andererseits sorgte er in den Wochen zuvor für große Unruhe. Ich wohnte mit meinem Vater einige Jahre zuvor in einer Wohnung, in der an den Wänden teilweise Schimmel war. Seitdem verfolgte ihn geradezu ein Wahn, dass überall Parasiten sein könnten. Meine Erkrankung bestärkte ihn darin und so musste ich in meinem Krankenbett, um mein Leben kämpfend, hinnehmen, dass mein Vater darauf beharrte und bestand, dass bei uns Parasiten wären. Er kündigte die Wohnung und beraubte mich so faktisch meines zu Hauses. Wir führten darüber einige Gespräche und ich forderte, dass er mir Beweise liefern sollte: Eine Untersuchung durch einen Sachverständigen oder das Gesundheitsamt. Das passierte jedoch nie. Auch die Schwestern und Pfleger schüttelten nur den Kopf, als er argwöhnisch im Zimmer die Wände und Oberflächen betrachtete.
Meine Blutwerte sackten nun regelmäßig auf lebens-bedrohliches Niveau. Nach einer besonders starken Blutung verlor ich beinahe das Bewusstsein.
In diesen Tagen schrieb ich auch Lin. Sie war die einzige Person neben meinen Eltern, an die ich in der Zeit dachte. Ich berichtete ihr von der Entwicklung und meinem Zustand.
Der April war angebrochen und vor dem Fenster liefen ein paar Häschen herum. Nicht, dass es irgendetwas an meiner Situation änderte. Ich hatte dadurch jedoch zumindest eine Idee, wie lange ich nun schon hier war.
In den Jahren zuvor hatte ich mir finanziellen Rücklagen geschaffen. Da das Überleben tatsächlich fraglich war, stand ich vor einer wichtigen Entscheidung. Damit im schlimmsten Falle an meine Rücklagen zu kommen war, schrieb ich meine Zugangsdaten und Passwörter auf. Die Frage war nur, wem ich diese gebe. Nachdem ich meine Finanzen grob offenlegte, war mein Vater sehr dahinter her. Er wollte das Geld anlegen, um ein Teil eines Hauses zu finanzieren, wo seiner Vorstellung nach er, seine Freundin, die Tochter und ich wohnen sollten. Ich entschied mich dafür, alles meiner Mutter anzuvertrauen. Das führte wiederum zu Querelen und auch dazu, dass mein Vater mehrere Male versuchte, meine Mutter dazu zu überreden, ihm den Zugang zu ermöglichen. Meine Mutter hielt stand und ließ alles unangetastet.
Nach vier oder fünf Tagen Behandlung mit Tacrolimus war dann das Ende der Fahnenstange erreicht. Ich hatte eine große Blutung, bestimmt einen halben Liter Blut auf einmal. Die Notoperation wurde anberaumt. Was genau dabei herauskommen würde, war ungewiss. Im besten Falle würde nur ein Teil des Dickdarms entfernt, im schlimmsten Falle der gesamte Dickdarm samt Teile von oder der gesamte Dünndarm. Es war der 7. April. Mein Vater war am selben Tag wieder aus China zurück und kam ins Krankenhaus, als ich gerade operiert worden war.
Meine Mutter erzählte mir später, dass sie beide im Aufwachsaal gewartet hätten. Mein Vater war hysterisch und haderte an der Entwicklung. Auch hier muss sich wieder ein skurriles Bild gegeben haben: Er konnte es nicht akzeptieren. Er weinte und litt vor sich hin. Eine Pflegerin sagte zu ihm: „Reißen sie sich zusammen. Schließlich sind es nicht sie, der da drin liegt.“
Anhand der OP-Berichte konnte ich später lesen, dass die Operation unter Vollnarkose sechs Stunden gedauert hatte.
Ich kam in einem Aufwachraum mit mehreren Personen wieder zu Bewusstsein. Ich hatte mich über die Wochen an Schmerzen gewöhnt.
Auf das, was ich jetzt jedoch spürte, war ich trotzdem nicht vorbereitet. Der Schmerz war so unerträglich, dass ich mit meinen Füßen strampelte, um es irgendwie aushalten zu können. Den Patienten neben mir ging es ebenfalls nicht allzu gut und die Schwestern waren sichtlich überfordert. So ließen sie ihren Verdruss auch an den Patienten aus.
Ich kam nach und nach mehr zu Sinnen. Mir wurde erklärt, dass ich eine Schmerzpumpe hatte, die ich bei Bedarf drücken sollte. Die Dosis und Menge wurde automatisch geregelt. Häufiges Drücken führte also auch zu nichts.
Wenig später wurde ich auf die Chirurgiestation verlegt. Im Gegensatz zur MX1, auf der ich zuvor gelegen hatte, war diese im noch nicht renovierten Teil der Klinik. Alte, mechanische Betten, Gegensprechanlagen um nach Pflegern zu rufen und Zimmer, die auf einem Stand von vor 30 Jahren waren.
Eine Besserung sah anders aus: Ich hatte nun einen ZVK – zentraler Venenkatheter am Hals, durch den ich weiterhin niedrig-dosiert Kortison, die Schmerzmittel über die Pumpe, Flüssigkeit und nun auch künstliche Ernährung erhielt, dazu eine Magensonde, eine Wunddrainage links am Bauch, den Stomabeutel rechts am Bauch, eine große Wunde in der Mitte des Bauches und zu guter Letzt einen Urinkatheter – ich war voll verkabelt und fühlte mich schlimmer als je zuvor.
Die Schmerzpumpe half mir nicht viel. Schlaf und Ruhe zu finden war jetzt noch weniger möglich als zuvor. Täglich bat ich bei der Visite um etwas gegen die Schmerzen, aber außer den Standardmedikamenten gab es nichts. Am Ende des Tages gab es meist eine Opiatspritze ins Bein, die mir dann zumindest wiederum für einige Minuten bis zu einer Stunde den Schmerz erträglich machte.
Zuerst wurde ich die Magensonde los, dann den Urinkatheter. Leider konnte ich weiterhin kaum trinken. Daher überraschte es zumindest mich nicht, dass ich kein Wasser lassen konnte. Trotzdem wurde mir der Katheter noch einmal gesetzt – diesmal jedoch im Wachzustand. Viel möchte ich dazu nicht sagen, außer, dass es nicht angenehm war. Nach dem zweiten Versuch blieb er dann aber permanent draußen. Mir wurde dann auch die Armzerstecherei erspart, weil man nun über den ZVK einfach Blut abnehmen konnte.
Meine Moral sank über die nächsten Tage zusehends, da sich mein Zustand kaum besserte. Hatte mir Dr. Tischler nicht versprochen, dass nach der Operation alles besser seien würde?
Sogar das Bluten wollte nicht aufhören. In einer „Nachtaktion“ - es muss 3 oder 4 Uhr morgens gewesen sein - wurde ich in einen Raum mit Gynäkologenstuhl gebracht – unbeheizt – und mir ein spezielles Zäpfchen verpasst. Zwei Tage lang versuchte das Zäpfchen ein brennendes Gefühl, dann waren die Blutungen jedoch gestillt.
Zwischenzeitlich wurde mir das Ergebnis der Untersuchung des entnommenen Organs mitgeteilt: Die Entzündung beruhte auf einer Infektion „unbekannten Ursprungs“. Das war dann wohl nichts mit der Colitis Ulcerosa Behandlung, dachte ich. Außerdem blieb dadurch die Angst, dass die Infektion alleine durch die Operation noch nicht ausgestanden war.
Weiterhin fiel mir das Essen und Trinken schwer. Die künstliche Ernährung wurde mir aufgezwungen. Ich erreichte einen moralischen Tiefpunkt. Für mich hatte mein Zustand wenig mit Menschsein zu tun: Gefesselt an ein Bett, mit Schmerzen, künstlich ernährt und mit Medikamenten vollgepumpt. Zudem wurde entschieden, dass ich nach den ersten Tagen wieder „normale Kost“ zu mir nehmen sollte. „Der Junge muss ja wieder zu Kräften kommen“, sagte einer der Ärzte. An sich war die Aussage nicht falsch. Ich hätte jedoch erwartet, wenn man hier öfters solche Operationen durchführte, dass die Ernährung entsprechend abgestimmt würde. Ein künstlicher Darmausgang ist äußerst klein, und ballaststoffreiche, rohe und schwer verdauliche Lebensmittel verursachen Blockaden, starke Schmerzen und sogar Darmverschlüsse. Ich wurde zunächst ins offene Messer laufen gelassen: Oft waren die Speisen kaum durchgegart. Zudem gab es auch Bohnen und Pilze. Mein Glück war es, dass ich nur wenig essen konnte. Ansonsten wären noch mehr Schmerzen und Komplikationen vorprogrammiert gewesen.
Doch mein größtes Problem blieb unerhört: Schnell merkte ich nach der Operation, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich konnte mich nur schwer an die Zeit vor dem Krankenhaus erinnern. Ich nahm kaum wahr, wann ein Pfleger kam und ging, geschweige denn, welchen Namen sie oder er hatte. Zumindest war mir zu dem Zeitpunkt noch bewusst, dass das vorher anders war. Ich schilderte es den Ärzten oft, doch meinten sie, das wäre nach so einer Operation normal. Das musste ich akzeptieren.
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