Ein Augenblick, der in den Weiten der Unendlichkeiten unendlich hätte sein können. Doch Robinia besann sich schnell wieder und nahm einen Pfeil aus ihrem Köcher und hielt ihn an den Einschnitt. Es handelte sich eindeutig um einen Pfeilschuss, den der Junge abbekommen hatte. Robinia konnte sich nur nicht erklären wie dies zustande gekommen war. Sie hatte Feuer, Sturm und tobende Wellen gesehen, doch keine fliegenden Pfeile. Im Wundern nahm sie eine eigens angemischte Tinktur und ein Pflaster aus ihrem Rucksack und klebte es auf das offene Fleisch. Schließlich zog sie ihm ihre einzigen Wechselsachen an und zerrte seinen Körper in ihre wärmenden Arme, in denen er benommen einschlief.
Während er im Land der Träume verweilte, ließ Robinia fast keinen Blick von ihm abschweifen. Sie wachte über ihn und vergewisserte sich immer wieder darüber, dass er noch atmete, dass seine Haut wärmer wurde und sein Herz noch schlug. Es dauerte einige Stunden bis ihn seine Träume losließen und er die Augen wieder öffnete.
Er schaute sie an. Sie schaute ihn an. Um sie herum der unendliche Ozean, der unendliche Himmel und die unendliche Dunkelheit, allein vom Dämmerlicht auf der anderen Seite der Mauer unterbrochen. Der Vollmond schien herab und die Sterne funkelten. Jedwede Umstände ausgeblendet, die dazu führten, dass die beiden sich in jenem Augenblick, an jenem Ort, anschauten, besaß der Moment unendliche Schönheit.
„Wie geht es dir?“ Durchbrach Robinia die unendliche Stille.
„Ich fühle mich wie in unzählige Einzelteile zerschmettert.“ Antwortete er benommen und weiterhin in ihrem Schoß liegend.
Dann fielen seine Augen erneut zu und er in einen weiteren tiefen Schlaf. Nach einer undefinierbaren Zeit blickte er sie wieder an.
„Was genau ist passiert?“ Wollte er nun von ihr wissen.
Robinia schilderte ihm ruhig und detailliert, was sie gesehen hatte.
„Ich wollte zurück nach Vulkanien.“ Stellte er fast verwundert fest als er sich aufrichtete und sich nachdenklich mit der Hand am Kopf kratzte. So als wenn er auf diese Art und Weise noch einige, verlorene Gedanken wieder zu Tage fördern konnte.
„Du kommst aus Vulkanien?“ Sprach jetzt Robinia, ihrerseits verwundert.
„Ja. Ich bin mit einem großen Schiff zu den Tropischen Inseln gefahren. Habe dort meine Großmutter zu Silvester besucht. Naja…“ Er stockte kurz um sich selbst noch einmal davon zu überzeugen, dass das, was er sagte auch der Wahrheit entsprach. “Naja, und dann…“ Fuhr er fort. „Wurde es dunkel und die Mauer war plötzlich da, sodass ich nicht mehr zurück zu meiner Familie nach Vulkanien konnte.“ Sein Gesicht verfinsterte sich voll Traurigkeit.
Robinia fühlte mit ihm mit. Es war nun schon einige Tage her, dass sie ihre Familie in Borelien zurückgelassen hatte. Doch davon erwähnte sie nichts. Bevor sie schwermütig werden konnte, durchbrach ein anderer Gedanke ihre Trübseligkeit.
„Also müssten wir jetzt auf einer Linie mit den Tropischen Inseln sein. So mehr oder weniger. Auf welcher der vielen Tropischen Inseln warst du?“
„Auf der Nördlichsten.“
„Also sind wir wahrscheinlich gar nicht mehr soooo weit weg von Eisland.“ Sprach Robinia fast erfreut.
„Ja, müsste so sein, wenn man beachtet, dass ich mit meinem Schwingflieger von Anedle aufgebrochen bin.“
Für einen Augenblick schwiegen beide um nachzudenken.
„Was ist aus deiner Sicht an der Mauer passiert?“ Wollte Robinia nun von ihm wissen.
„Unerklärliche Kräfte sind dort am Werk. Ich habe es mehrmals versucht der Mauer nahe zu kommen, sie gar zu überfliegen. Aber es ist unmöglich. Aus der Ferne betrachtet liegt die Mauer ganz friedlich da. Umso dichter man kommt, umso mehr bläst der Wind und toben die Wellen. Als ich ihr trotz dessen zum Greifen nahe war, fühlte ich ein plötzliches Stechen in der Brust. Als ich dann noch dichter kam, spürte ich so etwas wie Schläge und Tritte, Fausthiebe im Gesicht. Und als ich die Mauer fast anfassen konnte, entflammte jedes Mal Feuer. Bei meinem letzten Versuch ergriff es meinen Schwingflieger und er brannte ab. Da konnte ich beim besten Willen nichts mehr machen. Ab da an weiß ich nichts mehr.“
„Ein Schlupfloch hast du nicht gesehen?“ Wollte Robinia wissen.
„Nein.“ Sagte er mit schmerzverzehrtem Gesicht und hielt sich mit der Hand seine Wunde an der Brust.
„Du musst dich schonen.“
Dann wieder kurzes Schweigen.
„Ich will nach Eisland zu meinem Onkel. Dort wo immer das Flugobjekt am Himmel auftaucht und Sachen aus Steppenland bringt. Hast du davon gehört?“ Fragte Robinia ohne eine Antwort von dem jungen Mann abzuwarten. „Ich will zum Schlupfloch um einen Weg zu finden, dass die Dunkelheit aufhört.“
„Also fahren wir jetzt nach Eisland?“
„Ja. Wenn du mitkommst?“
„Habe ich eine andere Wahl? Oder gibt es hier noch ein Beiboot an Bord?“ Er sah sich spaßend auf der kleinen Nussschale um, vergaß dabei kurz seine Verletzungen, was ihn daraufhin wieder vor Schmerzen zusammen kauern ließ.
„Ich bringe dich besser wieder zu den Tropischen Inseln.“ Stellte Robinia besorgt fest.
„Nein.“ Protestierte er vehement. „Ich kann dich hier nicht alleine fahren lassen. Sieh es so an als dass ich dir noch etwas schuldig bin. Dafür, dass du mich quasi gerettet hast.“
Robinia nickte.
„Dann ist es jetzt an der Zeit mich vorzustellen.“ Sprach der Junge. „Ich bin Sherlocke.“
„Ich bin Robinia.“ Sagte Robinia.
Sie schüttelten sich beide wie Geschäftsmänner die Hände – als hätten sie einen Vertrag besiegelt die Dunkelheit zu vertreiben.
Tage vergingen, in denen sie sich von dem geklauten Trockenfisch und dem bisschen Wasser, welches Robinia bei sich hatte, ernährten. Sherlocke begann sich zusehends wieder wie eine vollständige Person, deren geschundene Einzelteile sich erneut zusammenfügten, zu fühlen. Er erzählte ihr unterdessen, dass er den Schwingflieger selbst gebaut hatte, dass er aus Vulkanien stammte und gern Wissenschaftler oder Gerätebauer werden wollte.
Robinia berichtete indes, dass sie aus Borelien stammte, dort einst mit ihrer Großmutter und dem Bruder einen Hof besaß. Sie berichtete von dem Flugzeug, den Missernten und dass sie am liebsten eine Räuberprinzessin, den Reichen nehmen um den Armen zu geben, werden würde.
Sie ruderten unentwegt. Nur zum Essen und Schlafen machten sie kurze Pausen. Sie schmiegten sich aneinander, sodass die immer frostiger werdende Kälte sie nicht auffraß. So sehr sie ihnen auch zu schaffen machte, war sie ein gutes Zeichen, dass sie auf dem richtigen Weg nach Eisland waren.
Als sie sich gerade wieder einmal zum Schlafen hinlegen wollten, plätscherte es in der Ferne und sie unterbrachen ihr Vorhaben. Sie schauten neugierig drein. Wieder plätscherte es und Robinia konnte nicht unweit des Horizontes einen Delfin ausmachen. Und noch einen und noch einen. Freudig sprangen die Meeressäuger aus dem Wasser und platschten fröhlich jauchzend wieder zurück ins Nass.
Robinia raffte sich wieder auf und griff zu den Rudern und steuerte das Boot in die Richtung der Delfine. Diese ließen sich von den Neuankömmlingen keineswegs beirren und vollzogen weiter ihre Wasserakrobatik. Bei den Delfinen angekommen, empfand Robinia einen unsagbar schweren Drang zu ihnen ins Wasser zu springen. Es fühlte sich beinahe so an als würde der Quatterling aus ihren Träumen sie dazu auffordern. Demnach leistete sie der Stimmte in ihrem Ohr Folge und entledigte sich, entgegen aller Vernunft, ihrer Kleider. Sherlocke schaute sie nur fragend an.
„Ich muss ins Wasser.“ Sprach Robinia bestimmt.
Er schüttelte perplex den Kopf. Zu sehr saß der Schreck von dem Kampf an der Mauer noch in seinen Gliedern als dass er sie im Wasser sehen wollte.
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