„Mit Vertrauen hat das nicht zu tun, sondern damit, dass ihr nie Zeit habt. Entweder seit ihr im Stress oder es sind fremde Leute hier. Natürlich glaubt ihr, mir alles zu geben, aber dabei handelt es sich überwiegend um materielle Dinge. Während ich im Krankenhaus lag, bildete ich mir für kurze Zeit ein, dass ihr euch um mich sorgt, leider war das nur eine vorübergehende Anwandlung. Nachdem meine körperlichen Gebrechen verheilten, gingt ihr zur gewohnten Tagesordnung über. Dass ich Nacht für Nacht schlaflos im Bett lag und den Albtraum immer wieder durchlebt habe, davon habt ihr nichts gespürt. Selbst jetzt, zeigt mir euer Verhalten, dass ihr mehr um einen Skandal besorgt seid, als meinetwegen.“ „Entschuldige Angie, denkst du wirklich so über uns und glaubst, dass wir dich vernachlässigen?“
„Ja, irgendwie schon.“ „Das stimmt aber nicht. Wir lieben dich und wollen nur das Beste. Vielleicht fehlt uns die Gabe, dir zu zeigen, wie sehr wir dich lieben.“ Herr Möller trat auf Angie zu und sagte: „Es tut uns weh zu erfahren, dass du dich in all den Jahren ungeliebt fühltest, aber wie deine Mutter schon sagte, stimmt das nicht.“ Angie zuckte mit den Schultern und schaute zu Boden.
„Ich denke für heute lassen wir es gut sein. Jedes weitere Wort führt im Moment zu nichts. Deine Mutter und ich müssen das Gehörte erst einmal verdauen. Morgen nehmen wir gemeinsam dein Problem in Angriff.“ „Du hast Recht.“ Ohne ein weiteres Wort verließ Angie den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie schaute aus dem Fenster ihres Zimmers und blickte in den Garten, wie der Mond durch die Bäume schimmerte. Sie überlegte, was trieb ihre Eltern, wie besessen, immer weiter dem Erfolg hinterher zu hetzen? Einmal belauschte sie ein Gespräch ihrer Großeltern, als sie wütend waren, weil ihre Eltern zum wiederholten Mal ihren Wochenendbesuch absagten. Sie verstand nur Wortfetzen, wir sind ihnen wohl nicht mehr gut genug, wollen immer höher hinaus, irgendwann werden sie auf die Nase fallen. Sie war damals zu klein, um zu verstehen, was die Großeltern meinten. Später erfuhr sie die ganze Geschichte.
Ihre Eltern kannten sich seit Kindertagen. Sie kamen beide aus gutbürgerlichen Familien, die sie selber als spießig bezeichneten. Bis zur mittleren Reife besuchten sie die gleiche Schule in Rosenheim. Richard begann nach der Schule eine Lehre zum Bürokaufmann und Helen machte eine Verkaufslehre in einem Bekleidungsgeschäft.
Beide hatten schon früh das Ziel groß rauszukommen. Weg von dem bürgerlichen mief ihres Elternhauses. Aus diesem Grunde zog es sie in ihrer Freizeit immer nach München. Hier lag ihre Welt und hier fühlten sie sich wohl. So wunderte es niemand, dass sie sich umgehend nach Beendigung ihrer Ausbildung dort um einen Job bemühten. Das Glück war ihnen hold und beide fanden schnell Arbeit. Helen in einer Boutique und Richard in einem Immobilienbüro. Sie gingen viel aus und genossen ihr neues Leben. Sie glaubten, ihr Weg nach oben könne nichts mehr stoppen, aber das Schicksal entschied anders als erwartet. So auch bei Helen und Richard. Sie wurde schwanger und nachdem der erste Schock überwunden war, trafen sie eine Entscheidung. Sie fuhren zu ihren Eltern und hofften, von ihnen Hilfe zu bekommen. Bei der moralischen Einstellung ihrer Eltern, kam ein Abbruch nicht in Frage. Letztendlich entschieden sie, dass Helens Eltern das Kind die ersten Jahre aufziehen sollten, bis sie eine finanzielle Basis geschafft hatten, um gut für ihr Kind zu sorgen.
Um der Moral gerecht zu werden, heirateten sie umgehend. Die Hochzeitsfeier fand im engsten Familienkreis statt.
Am 19. März 1964 wurde Agnes, die von Anfang an Angie gerufen wurde, geboren und nach zwei Monaten zu den Großeltern gebracht. Die erste Zeit besuchten sie ihre Tochter jedes Wochenende, aber mit dem beruflichen Erfolg wurden ihre Besuche immer seltener. Richard arbeitet inzwischen bei einer großen Immobilienfirma, die sich nur auf Luxusobjekte spezialisierte. Natürlich gehörte zu diesem Job, dass man auch in seiner Freizeit, den Kontakt zu potenziellen Kunden pflegte. Diesem Umstand verdankte Helen ihren Neueinstieg nach der Geburt Angies. Bei einer Modenschau lernte sie die Frau eines Klienten von Richard kennen und sie bot ihr die Leitung einer ihrer Boutiquen an. Ihr Erfolg war nicht mehr aufzuhalten und bereits nach fünf Jahren kauften sie das Haus und holten ihre Tochter zu sich.
Gemeinsam saßen sie in dem Büro von Frau Bayer, der Leiterin von Pro Familia. Frau Bayer strahlte Kompetenz und Vertrauen aus. Nach der Begrüßung sprach sie ohne Umschweife den Grund der Zusammenkunft an. „Durch die Informationen von der Lehrerin ihrer Tochter bin ich über die Sachlage im Bilde und leistete bereits einige Vorarbeit. Ich kontaktierte die Ärzte im Krankenhaus und erfuhr, dass die inneren Verletzungen bei ihrer Tochter schwerwiegend waren. Sie sind erleichtert, dass die Narben langsam verheilen, halten allerdings einen Abbruch in dem jetzigen Stadium für bedenklich. Neben der gesundheitlichen Situation, ist die rechtliche Lage zu klären. Sie wissen, dass ihre Tochter bereits die Grenze für einen legalen Abbruchs überschritten hat. Das heißt im Klartext: Es ist notwendig einen Antrag zu stellen, um eine Sondergenehmigung für einen Abbruch zu erwirken. Dabei ist unsere liebe Bürokratie zu berücksichtigen, und das ihnen die Zeit davon läuft.
Ich schlage ihnen eine andere Lösung vor. Ihre Tochter bekommt das Kind.“ „Nein! Schrien alle wie auf Kommando. Auf keinen Fall!“ „Lassen sie mich bitte ausreden, damit ist nichts entschieden. Also nochmals, sie bekommt das Kind und geben es zur Adoption frei. Es gibt so viele Paare die wünschen sich sehnlich ein Kind.“ „Sind sie verrückt“, schrie Herr Möller. „Nein, das bin ich nicht, aber sie sollten der Realität ins Auge sehen und alle Möglichkeiten überdenken. Ich weise sie nochmals darauf hin, dass es nicht sicher ist, ob der Abbruch genehmigt wird. Je eher sie eine Alternative ins Auge ziehen desto besser. Wegen der inneren Verletzungen ihrer Tochter wird man voraussichtlich das Kind durch einen Kaiserschnitt holen. In diesem Fall erlebt sie von der Geburt nichts. Ihr bleibt der erste Schrei des Babys erspart, wodurch jegliche Bindung unterbunden wird im Gegensatz zu einer normalen Geburt. Alle notwendigen Papiere werden im voraus unterzeichnet und das Baby wird, nach der Geburt den Adoptiveltern übergeben.
Angie, ich spreche Sie direkt an, weil es Sie betrifft. Was Ihnen passiert ist, lässt sich nicht mit Worten beschreiben, und ich weiß, dass Sie das Erlebnis nie vergessen können. Durch diese grauenvolle Tat ist traurigerweise ein Lebewesen entstanden. Ihr ungeborenes Baby hat es sich nicht freiwillig ausgesucht, in diese Welt geboren zu werden. Besitzt es kein Recht auf Leben in einer Familie, die es liebt? Sagen sie jetzt nichts. Ich bitte sie, mit ihren Eltern in Ruhe über beide Möglichkeiten nachzudenken. Egal wie Sie sich entscheiden, unterstütze ich Sie bei der weiteren Organisation.“ An Angies Eltern gewandt sagte sie: „Machen sie nicht den Fehler und schicken ihre Tochter zu einem illegalen Abbruch ins Ausland. Das könnte ihr Leben gefährden.“
Wieder zu Hause saßen sie im Wohnzimmer und es herrschte eisiges Schweigen. Frau Möller ertrug die Ruhe nicht und ging in die Küche. Angie kauerte im Sessel und wagte nicht, sich zu bewegen. Herr Möller griff zum Telefon, rief zuerst Doktor Arendt und anschließend seinen Rechtsanwalt an. Mit wenigen Worten erklärte er ihnen die Lage.
Mit einer Kanne frisch gebrühtem Tee kehrte Frau Möller zurück. Sie fragte: „Mit wem hast du telefoniert?“ „Mit Willi, unseren Rechtsanwalt und Doktor Arendt. Es sieht schlecht aus. Beide bestätigten die Aussage von Frau Bayer. Doktor Arendt schlug mir eine andere Möglichkeit vor. Es wäre ein einfacher Weg ohne große Bürokratie.“
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