Sie rannte. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde ihr Körper schwerer. Feinde waren hinter ihr her, aber sie lauerten nicht nur im Rücken, sondern von allen Seiten. Sie rückten immer näher, still und leise. Die kalte, graue Ebene, auf der sie sich befand, begann zu beben. Immer stärker und lauter. Die Feinde wichen zischend und erschrocken zurück. Ein großes Pferd galoppierte den Weg entlang, ein Mann mit einem Schwert schwang sich aus dem Sattel und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie. Er half ihr auf und nahm ihre Hand. Alles war jetzt viel leichter. Gemeinsam traten sie auf ein riesiges, furchterregendes Schloss zu, die Feinde vor sich und eine gewaltige Armee hinter ihnen.
7 Die Räuber
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch ihr Fenster.
Verschlafen und mit zerzausten Haaren setzte sich das junge Mädchen auf und rieb sich die Augen. Gähnend stieg sie aus dem Bett, schlüpfte aus ihrem Nachtkleid in einen schmalen, langen Rock in dunkelgrauer Farbe und eine einfache Bluse in Weiß.
Der Geruch von gebratenem Fleisch drang ihr in die Nase, gewürzt mit Pfeffer und Salz. Wohlige Vorfreude breitete sich in ihr aus und sie trat hinunter in den Wohnraum.
Leyiho saß am Tisch, seine Gestalt gebeugt und frustriert. Er war riesig, hatte blondes Haar und braune Augen, sah ihr also nicht im Geringsten ähnlich. Trotzdem hatte sie in ihm immer ihren wahren Vater gesehen. Lächelnd holte sie sich ein Stück Fleisch aus dem Kessel, unter dem orangerote Flammen prasselten, legte es sich in eine Schale und nahm eine Brotscheibe von einem hölzernen Regal über ihr.
„Guten Morgen“, sagte Leyiho.
Sie setzte sich neben ihn und sprang dann noch einmal auf, um ein Messer und eine Gabel aus einer kleinen Lade zu holen. Draußen zwitscherten Vögel und der sanfte Geruch von Regen drang herein. „Guten Morgen. Hast du gestern viel verkauft?“, wollte sie von ihm wissen.
Leyiho schüttelte traurig den Kopf. Schweigend starrte er ins Leere, wie immer, wenn er sich Sorgen um das Geld machte, das ihnen fehlte.
Lya wusste, dass sie nicht wohlhabend waren, aber sie hatten meist genug Geld gehabt, um über die Runden zu kommen. Sicher, einige Winter hatte es gegeben, in denen sie gehungert und gefroren hatten, aber so war es bei den meisten Familien im Dorf der Burg Fuchsenstein. Sie erinnerte sich, dass es sogar angenehm gewesen war, bei eisiger Kälte für den Grafen zu arbeiten, da sie sich in warmen Gemäuern oder in der heißen Küche aufgehalten hatte.
„Ich habe dir einen Korb draußen hingestellt“, sagte Lya, nachdem sie schweigend zu Ende gegessen hatte. Sie legte Messer und Gabel in die Tonschüssel und brachte sie auf einen kleinen Tisch mit einer Waschschüssel.
„Habe ich schon bemerkt … Danke“ Leyiho lächelte.
„Ich muss gehen“ Sie umarmte ihren Ziehvater kurz, dann huschte sie aus der Hütte und fand Jastia zwischen einigen taufeuchten Pflanzen. Sie schnitt Himmelskräuter, die ihren Namen von den zartblauen Blüten hatten, die entlang des Stiels wuchsen und sich entfalteten wie kleine Sonnen. Lya winkte ihr zu: „Bis am Abend!“
„Viel Geduld, Liebes!“, rief Jastia zurück.
Lächelnd öffnete sie das vom Regen feuchte Gartentor. Einen Moment hatte sie das wundervolle Gefühl, in einer perfekten Welt zu leben. Es roch nach morgendlicher Frische, ihre Mutter stand im Garten und schnitt Kräuter, während ihr Vater daheim saß und sich über sein Essen beugte. Die Gräser rauschten im Wind, der Himmel färbte sich in einem kräftigen Blau und die Sonne ließ ihre rotgoldenen Strahlen zart über die Erde fallen.
Wehmut erfasste Lya unerklärlicherweise, dann wandte sie sich ab und marschierte über die grünen Hügel. Die Wiesen erwachten zum Leben und nahe des kleinen Wäldchens erblickte sie ein Reh, das sie kurz ansah und dann den Kopf wieder senkte, um zu grasen. Lya ließ ihre Seele wieder von der Farbenpracht erfüllen, die sie umgab, bis das große Schloss vor ihr aufragte.
Die steinernen Mauern blickten ihr entgegen. Die Fallgitter öffneten sich ratternd und eine Schar von Dienern und Mägden trat ein. Sofort stieß ihr der Geruch von Alkohol entgegen und als sie den Burghof betrat, hörte sie Graf Rutov fürchterlich schreien. Er erblickte seine Untergebenen und brüllte: „WAS STEHT IHR DA SO HERUM?! MACHT SAUBER!“
Lya starrte auf die zertrümmerten und zerbrochenen Bierfässer. Sofort kam Bewegung in die Versammelten. Stöhnend machten sie sich an die Arbeit, beinahe alle waren selbst noch von der gestrigen Feier betrunken und erschöpft.
„MACHT NICHT SOLCHE GESICHTER!“, zeterte Graf Rutov. „ALS WÜRDET IHR ES HASSEN, FÜR MICH ZU ARBEITEN!“
Daraufhin lächelten die Dienerinnen und Diener. Lya bemühte sich wenigstens um ein freundliches Gesicht. Kaum hatte sie den nach Bier stinkenden Hof überquert und war bei der großen Steintreppe angekommen, donnerte der Graf: „WIESO GRINST IHR SO?! FINDET IHR DAS LUSTIG, DIESE SAUEREI?!“
Lya eilte mit einem der Wasserkrüge aus Porzellan über den Hof, weil einer der Adeligen einen Ausritt machte und noch etwas trinken wollte. Ein Mann rannte schreiend in den Hof.
Der Aristokrat, neben dem Clemin bereits stand und die Zügel seines gesattelten Pferdes hielt, starrte ihn missbilligend an, dann zupfte er seinen Mantel aus Fuchsfell zurecht.
Lya erkannte den Händler Iudok und fragte sich, weshalb er so verschwitzt und abgehetzt aussah. Seine Kleider waren dreckig; offenbar war er mehrmals in den Schlamm gefallen. Keuchend fiel er auf die Knie: „Räuber – im – Dorf – Tote … überall …“
Das Gefühl, mit Eiswasser übergossen zu werden, breitete sich in Lya aus. Schreckensbleich starrte sie auf den Mund des Mannes, in der Hoffnung, er würde sagen, all dies sei ein schlechter Scherz. Ihre Knie begannen zu Zittern.
Allmählich begriff auch der hochgeborene Herr vor ihr, dass es sich um etwas Ernstes handeln musste. Hilflos drehte er sich zu ihr um: „Äh … informiere mal Graf Rutov, Magd …“
Nachdem die Starre gewichen war, spürte Lya ihr Herz gegen ihre Rippen trommeln. Immer lauter wurde es, bis ihre Brustknochen schmerzten. Alles in ihrem Kopf drehte sich, bis die durcheinanderwirbelnden Bilder sich auf eines geeinigt hatten: Das Haus von Leyiho und Jastia, die davor Kräuter sammelte. Himmelskräuter.
Rasch fasste sie einen Entschluss. Ihre Holzschuhe klapperten geräuschvoll am Boden, als sie auf das rotbraune Pferd zulief, das ungeduldig schnaubte und mit wild rollenden Augen tänzelte. Lya wusste, wie man ritt, Clemin hatte es ihr beigebracht. Mit dem Pferd wäre sie ein Dutzend Mal schneller als zu Fuß.
Sie schwang sich ein wenig ungeschickt in den Sattel und ergriff die Zügel: „Clemin – sag du dem Grafen, was los ist!“
„Was machst du?“, rief der Junge schreckensbleich.
„Ich reite zum Dorf. Ich muss wissen, was los ist!“
„Du bist verrückt!“, schrie Clemin.
Das Pferd scharrte unruhig mit den Hufen und schnaubte. Lya blickte Clemin mit einem aufgesetzten Lächeln an: „Ich werde schon nicht sterben.“
„Versprich es“, flüsterte er und trat langsam näher. Seine Augen waren voller tiefer Sorge und einem anderen Gefühl, dass sie nicht einzuordnen vermochte. „Lya, ich liebe dich. Ich kann es nicht ertragen … versprich es.“
Lya schwieg und schüttelte traurig den Kopf, in der Hoffnung, Clemins Herzschmerz ein wenig erträglicher zu machen, wenn sie nichts sagte. Natürlich liebte sie ihn nicht und ihre Familie war im Moment weitaus wichtiger als er. Sie gab dem Pferd die Sporen.
Unter lautem Hufgeklapper galoppierte es über die Brücke. Entschlossen war Lyas Blick nach vorne gerichtet. Der Boden raste unter ihr vorbei, die Berge wurden in einem düsteren Grau verwischt.
Das kleine Wäldchen kam immer näher, bald würde sie beim Dorf sein. Grimmig ritt sie weiter, bis sie plötzlich wilde Schreie hörte. Irgendwo in ihrer kühnen Entschlossenheit regte sich auf einmal der Verstand. Nervös lenkte sie das Pferd zwischen die wenigen Bäume. Diese umgaben sie schützend, die dunklen Schatten umschlossen sie. Von hier aus würde sie nicht gesehen werden.
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