Toruskorr verweilte nicht lange stehend, aber ehe er mit seiner Pilgerschar die so lange wie breite Rampe, die von der obersten Ebene direkt zur untersten führte, hinunter schreiten sollte, ließ er noch einmal ein Brüllen zur Begrüßung aller ertönen.
Gehört und gesehen wurde sie von vielen, denn einige Götter und Klans, die zum Allthing erscheinen sollten, waren bereits zugegen, ebenso wie die anderen Delegationen der Matronen.
Aus dem Norden der Welt waren der gehörnte Rabengott Krakax und seine Krieger der Lüfte bereits fünf Tage zuvor eingetroffen. Ihre erste Aufgabe war es gewesen, die Vorbereitungen am Versammlungsort zu treffen und mit ihrem Zirkel das Land zu überwachen. Ihr Nest hatten sie im langen Gebirgszug des Ehernen Rückens, der noch weit nördlich vom Wald der Welt lag, aber da sie auf Schwingen eilig durch die Himmel gleiten konnten, war für sie die Anreise natürlich von weniger langer Dauer als für jene, die auf Erden wandelten. Die Werraben, die eine vergrößerte Tiergestalt angenommen hatten, verweilten mit schwarzem, raschelnden Gefieder und gelegentlichem Krächzen oberhalb der Arkaden und am Kraterrand. Neugierig beobachtend und zunächst stumm hockten sie da, ihre Köpfe mit den langen Schnäbeln weit nach vorne reckend. Sodann breitete Krakax seine Flügel aus und begrüßte mit seinem Klan laut und deutlich die Neuankömmlinge.
Von den Klans aus dem Süden der Welt waren zuerst die Löwen eingetroffen. Auf der Kreisterrasse oberhalb der untersten Ebene standen sie in einer offenbar etwas strengeren Formation. Inmitten der Werkrieger mit breiter Mähne ragte der Gott von Wüste und Savanne hoch empor: Mekhimba, der sogar fünf gewundene Hörner wie einem Fächer gleich am Schädel trug. Sandfarben und ocker sein kurzes Fell. Gewaltig groß der Schädel. Strahlend gelb die Augen. Er mochte nur wenige größer als Toruskorr sein, aber seine Erscheinung wirkte noch etwas imposanter, wenn er auch wie die Seinen ein gewisses Maß an zur Schau gestellter Überheblichkeit haben mochte. Das Sandmeer von Al Saidun, eines ihrer beiden Reviere, lag jenseits der tiefen Schluchten einige Meilen weiter südlich und wiederum südöstlich davon ihr eigentliche Heimat Rungbabwe, die Gelbe Weite der großen Herden. Natürlich donnerte ihr Brüllen am Lautesten über den Krater von Cairn Urathan hinaus und so begrüßten sie die Neuankömmlinge.
Fast im selben Augenblick ertönte das laute Kreischen eines prachtvollen Vogels, als sich ein weiterer Klan der Lüfte mit seinem Herren hernieder ließ. Eine ganze Weile waren sie Kreise um den Berg gezogen, doch nun gesellten sie sich zu den anderen und ließen sich direkt auf den äußeren Arkaden hernieder. Rot und blau strahlte das ausladende Gefieder des Falkengottes Horuil, der noch nach der Landung mehrfach mit den weiten Flügeln schlug. Auffällig unauffällig waren bei diesem die beinahe zierlichen Hörner, die jeweils recht eng an seinem edlen Schädel mit den großen, scharfen Augen wuchsen. Seine Klauen krallten sich den Stein des Säulenbogens, der nur wenig knackte und keine Risse bekam. Die Delegation der Seinen war eher klein, was aber nicht am mangelnden Respekt für das Allthing lag, sondern daran, dass ihre Zahl dereinst stark dezimiert worden war und sie seither nie wieder ihre alte Stärke erlangt hatten. Als Nomaden suchten sie immer wieder unterschiedliche Horte auf dem gesamten Kontinent auf. Im Geleit hatten sie nur wenige Matronen, die sich sofort von ihrer merklich kleineren, aber dafür umso bunteren Falkenform in ihre menschliche Gestalt verwandelten. Schnell schritten sie zu den Stufen um weiter hinunter zu gelangen. Die Werkrieger von Klan Falke verweilten in Kriegsgestalt bei ihrem Gott und gemeinsam begrüßten sie mit einem weiteren Ruf aus lauten Schnäbeln die Neuankömmlinge von Keiler und Wolf.
So hatten sich nun vier Götter und fünf Klans auf dem Allthinggipfel des Cair Urathan eingefunden. Die Werkrieger und ihre Herren verweilten vorerst noch für sich und musterten einander mit ausreichendem Abstand, ganz anders als die Vertreterinnen der fünf Zirkel, die nach einer kurzen Verneigung im Angesicht des Ortes die Treppen hinunter schritten zu jenen, die bereits zugegen waren.
Die soeben eingetroffenen und bereits anwesenden Matronen versammelten sich allesamt auf der untersten Ebene, dem eigentlichen Versammlungsplatz zwischen den Megalithen und rund um das magisch strahlende Becken. Laut jubelnd und mit klopfenden Stäben begrüßten sie einander. So vielgestaltig die Werkrieger sein mochten, so an Aussehen und Gewandung unterschiedlich waren die Töchter Ardas. Mehr noch als ihre Brüder verkörperten sie die vielen verschiedenen Kulturen der Welt und dies zeigte sich nicht nur an der Hautfarbe, aber umso mehr an den vielgestaltigen Roben, die dem Anlass gemäß nur aus den feinsten Stoffen mit den prächtigsten Verzierungen samt dem schönsten Schmuck bestanden. Ihre Foki der Macht, die Stäbe, waren zumeist mit diversen Artefakten behangen und mit besonderen Runen versehen.
Da sie für die ersten Riten und für einen Großteil der Organisation des Allthings verantwortlich waren, begannen sie bereits erste Gespräche und ungezwungenen Palaver. Je nach Region und Herkunft waren zwar ihre Sprachen unterschiedlich, doch im uralten Gallach, der einheitlichen Rede der Erwachten, konnten sie sich mit nur wenig Mühe miteinander verständigen, auch wenn man sich zunächst auf die eine oder andere exaktere Betonung einigen musste oder manchen Schwierigkeiten mit gewissen Dialekten zu überwinden hatte. Abgesehen davon, waren sie in erster Linie sehr froh und glücklich darüber, dass sich die so weit verstreute Schwesternschaft nach über zweihundert Jahren zu einer solch heiligen Zusammenkunft hier wieder traf und sie einander so zahlreich sehen konnten. Manche kannten einander von diplomatischen Treffen bereits, während sich andere in der Geisterwelt oder in Träumen begegnet waren. Während also die Werkrieger und Götter vorerst stoisch und abwartend mit ihrer jeweiligen Gruppe verweilten, der Wildschweingott und die Seinen sich gerade erst grunzend auf einer ausgesuchten Ebene versammelten, umarmten sich die vielen, so unterschiedlichen Matronen bereits, lachten über die ersten Scherze und verfielen aber oft sogleich in ernste und tiefgründige Gespräche.
Und da waren noch die allerhöchsten Matronen, die Gavas, die sich nun von Angesicht zu Angesicht zum ersten Mal an einem Ort so sahen. Etwas abseits ihrer Schwestern stand die zuerst Eingetroffene: Gava Suabae aus dem Zirkel von Savanne und Wüste, die eine Haut wie Ebenholz mit weißen Tätowierungen hatte. Geflochtenes, schwarzes Haar, ausladender Schmuck um den Hals, einen abgeschnittenen Teil der Mähne ihres Gottes über die Schultern. Nur mit einem einfachen und doch so vielsagenden Lächeln begrüßte sie Gava Bayagra, die eine rotbraune Robe mit silbernen Hauern als Schmuck trug, und Gava Meduna, die sich golden und grün gewandet hatte. Als diese beiden die Reihen der Ihren durchschritten, verneigten sich tief alle Schwestern von niederem Rang. Die Drei bildeten einen Kreis, umfassten sich gegenseitig an den Schultern und nickten einander lächelnd zu. So viel an Weisheit und Macht, so viel an Verantwortung, so viel an gelebter Zeit. Dann wandten sie sich an die Zirkel und mit einer einfachen Handbewegung geboten sie allen anwesenden Töchtern Ardas, sich wieder zu erheben und fortzufahren mit Kennenlernen und Unterredung.
So mancher Gott und sein Gefolge fehlte aber noch, ebenso wie so manche Gava und die anderen geladenen Zirkel. Es blieben weniger als drei Tage, auf dass diese ebenso eintreffen sollten. Es war nicht ganz gewiss, ob es denn alle vermochten, denn die Kriege, die die Letzte Schlacht voraus gingen, waren andernorts bereits losgebrochen und würden manche aufhalten oder gar davon abhalten, zu Cairn Urathan zu kommen. Manche Reviere im südlichen Teil des Kontinents wurden bereits direkt attackiert, während in den Tiefen der Meere eine gänzlich eigene Situation vorherrschte.
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