Zu jener Stunde des Things schien die lähmende Melancholie, die nach Wut und Trauer so lange vorgeherrscht hatte, zum ersten Mal fast gänzlich verschwunden. Die Kriegslust war groß und sollte sich noch steigern. Dafür waren sie geboren worden und kein Klan hatte mehr Grund und Antrieb, sich in die erste Reihe zu werfen und im eigenen Blut freudvoll zu vergehen.
So schrien sie alle: „Für den Allvater! Für Gorond!“
Er mochte tot und vernichtet sein, aber durch ihn waren sie geboren worden und seit mehr als einem Zeitalter geleitet worden. Sein Blut floss in all ihren Adern. Seine Kinder waren sie für immer. Dies alles konnten sie niemals vergessen.
Warugs Tätowierung auf dem Rücken brannte einem Feuer gleich und floss mit Rot, als sie seinen Namen brüllten. Sein Mantel aber verbarg das Mahnen vor den anderen.
Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er inmitten einer so großen Schar der Seinen wandelte, doch überraschend selten zeigten seine Brüder auffällige Reaktionen. Von so manchen, die Warug teils von jener seltsamen Begegnung am Baum der Anklage wiedererkannte, erntete er tatsächlich anerkennendes Nicken oder respektvolle Worte, was ihm allerdings nur wenig behagte und andere argwöhnisch beobachteten. Die meisten ignorierten ihn aber ganz bewusst oder versuchten ihm weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Andere spuckten ihm vor die Füße und knurrten seinen Namen wie einen Fluch. Einige wagten provozierende Gesten in Kriegsgestalt, aber eine körperliche Attacke gab es nie, denn noch immer galt das Gebot der Unberührbarkeit, und er hatte seine Wächter. Sanara und Brander verweilten demonstrativ an der Seite ihres Schutzbefohlenen.
Dass Warug kein abgefallener Bruder mehr sei, mit dem nach seiner Strafe am Baum der Anklage, nach Belieben und mit freiem Zorn verfahren werden konnte, hatte Gava Meduna höchstselbst noch einmal während des Things laut betont, aber mit keinem weiteren Wort wurde weiter auf ihn und seine Tat eingegangen. Nicht einmal der gerade eben ernannte Magnor verlor darüber ein Wort. Er hatte zwar in seiner Rede oft vom Tode Goronds gesprochen, aber dass er zum Dämon geworden war erwähnte er ganz bewusst nicht, denn manche hätten schlussfolgern können, dass der Makel der Verderbnis sich von Gott auf Klan übertragen könnte.
Stolz verkündete die Gava schließlich, dass schon sehr bald ein Allthing der Wilden Götter stattfinden werde. So großer Jubel brandete darüber auf, sodass manche fast überhörten, dass es Warug Gottschlächter dorthin zu eskortieren galt, damit er sein Urteil von den Großen Väter und Großen Müttern empfangen würde. Neun besonders ruhmreiche Rudel erhielten die besondere Ehre mit einer Delegation von Matronen dorthin zu pilgern. Dass bei der Ausrufung der Erkorenen wiederum ein lautes Heulen aufbrandete, war in der Tradition des Klans selbstverständlich. Die Zauberinnen klopften mit ihren Stäben laut auf den Boden, was auffälligerweise kaum von der Schneedecke gedämpft wurde. Als sie sich schließlich um Gava Meduna herum versammelten und vor ihr knieten, waren nun sie es, die lautes Wort erhoben.
Und so tönte es über den heiligen Hain hinweg: „Für die Allmutter! Für Arda!“
Der heilige Berg Cairn Urathan war seit jeher der Ort für ein Allthing der Wilden Götter. Der einzigartige Massiv lag weit im Süden und war ohne allzu langen Marsch relativ schnell erreichbar. Die Reise dorthin würde zunächst durch das Sphärenportal im Forst der Wölfe erfolgen, welches auch mit jenem im Revier der Wildschweine direkt verbunden war. Sodann würde Toruskorr die Kolonne von vereinigten Rudeln der Seinen und der Werkrieger ohne Gott gemeinsam mit den Matronen der jeweiligen Zirkel anführen. Unter seinem Geleit würden sie den heiligen Berg hinaufsteigen und zu jenen stoßen, die bereits warteten und wachten.
So war alles beschlossen und verkündet worden auf der Hainstatt der Werwölfe. Damit hatte diese so bedeutende Zusammenkunft ihr Ende gefunden und das weitere Schicksal von Klan Wolf war somit bestimmt worden. Doch sollte mit der sich herab senkenden Nacht weder die Stunde des befreiten Umtrunks mit Met erfolgen, noch das lange Feiern bis zum Rot des nächsten Morgens, sondern ein letztes, langes Gemahnen an den verlorenen Vater, Herrn und Gott.
Für Gorond wurde das längste Heulen angestimmt, welches jemals in der Geschichte über den Wald der Welt hinweg ertönt war und für immer in der Tiefe des Forstes selbst erinnert werden würde. So verwandelte sich zunächst ein ganzer Hain voll von Männern zu Wölfen, ehedem alle anwesenden Kinder ihres Gottes ihre Stimmen anhoben und sangen, sangen in Trauer und Schmerz, sangen in Wut und in Hoffnung, sangen für einen Sieg über alle Dunkelheit. Alle Tiere im gesamten Revier hörten es und hielten inne. Mehr und mehr Geister zeigten sich und verweilten starr. Selbst der Wind schwächte ab und vermochte keinen Baum mehr zu neigen. Der gesamte Zirkel der Matronen ging auf die Knie und senkte in stummer Andacht tief die Häupter. So erinnerten sie sich alle, so nahmen sie erneut und gemeinsam Abschied vom Großen Vater Wolf: Gorond, dem Wilden Gott der Wölfe, dem ewigen Jäger der Verderbten, dem Anführer des Heeres der Werwölfe, der nicht mehr war und nie wieder sein würde.
Warugs Tränen flossen wie das Blut auf seinem Rücken und rote Tropfen zeigten sich im Weiß. Sanara verweilte noch lange in ihrem stummen Gebet zum letzten Abschied. Brander heulte mit den Seinen, aber in ihm war nur noch Taubheit und Leere.
Während dieser so lauten Andacht, die einige fast in eine Form von Ekstase versetzte, bemerkte niemand die sich langsam davon schleichende Schar von Brüdern, die keinesfalls Trauer bekunden wollten, denn für sie hätte der zu schwach gewordene Gott schon viel eher sterben müssen und bald schon wollten sie dem Klan beweisen, was wahre Stärke verhieß.
Kapitel 6: DER HEILIGE BERG
Der heilige Berg ohne Gipfel erhob sich einsam aus der nebligen Landschaft. Die Karawane von Keiler und Wolf, angeführt von einem Gott, marschierte über die weite Ebene hin zu jenem Ort, der sich dunkel gegen einen grauen Himmel abhob. Das letzte Rot des Morgens glomm noch schwach am Horizont und offenbarte in der Weite die Silhouette der Grauen Berge, die hier ihre östlichsten Ausläufer hatten und viel weiter im Westen die südliche Grenze des Waldes der Welt markierten. Das Hochplateau erstreckte sich zumeist flach, lediglich hie und da waren Hügel und größere Felsen, die wie absichtlich platziert schienen und teils mit uralten Symbolen übersät waren, zu sehen. Ausladende Forste zeigten sich nur in weiterer Entfernung, besonders zum Fuße der Grauen Berge sowie gen Norden und gen Süden hin, ebenso umgab den abgeflachten Höhenzug inmitten der Ebene ein ausladender Kiefernwald. Grün waren noch dessen Nadeln, wiewohl die Laubbäume der Jahreszeit gemäß längst ihre Blätter verloren hatten. Braun und matschig bedeckten diese an vielen Stellen die Böden. Im niedrigen Gras war nur wenig Schnee zu sehen. Überhaupt berührte der Winter hier das Land nur flüchtig, denn soweit im Süden verweilte das Weiß nur an vereinzelten Stellen, und selbst die Kälte erfüllte zu dieser frühen Stunde nur zurückhaltend und längst nicht mit aller Härte die Luft. Der Wind rauschte selten und auch sonst war es recht still, bis auf das wiederholte Krächzen einiger Raben, die sich in unsteter Formation immer wieder über dem heiligen Berg zeigten. Irgendwo kreischte ein Falke, der aber selbst vom schärfsten Auge eines Werkriegers noch nicht ausgemacht werden konnte.
In den Nebeln war mit einem Mal das Brüllen eines gewaltigen Löwen zu hören. Vom Süden herauf zog eine weitere Karawane von Erwachten und ihrem Herren, jene vom Klan der Könige der Wüsten und Savannen. Ihre vielzähligen Gestalten schälten sich aus dem Grau heraus und voran schritt ein riesiges Tier mit breiter Mähne, erhabenem Stolz und der auffälligen Eleganz einer Katze. Hinter diesen waren schließlich Matronen mit dunkler Hautfarbe zu erkennen, die in bunten, vor allem aber roten Gewändern folgten. Der Große Vater Löwe hielt inne, worauf seine Streiter und die Zauberinnen ebenso im Marsch stehen blieben. Da ließ er seinen Gruß aus weit aufgerissenem Maul erneut über die Ebene hinweg erschallen, ehe ihm der Brudergott der Wildschweine mit nicht minder lautem Ton antwortete. Ein Heer von Raubkatzen brüllte, ein Heer von Keilern und Wölfen stimmten ein in ein gemeinsames Lied, wie es nur selten die Welt gehört hatte. Es folgte ein kehliges Krächzen eines großen, schwarzen Vogels, der sich soeben vom Berg erhob und für alle sichtbar seine Kreise zog. Höher und höher glitt der Große Vater mit dunkler Schwinge und die Seinen folgten ihm in tänzelnder Formation. Klan Rabe war schon längst eingetroffen. Erneut erklang der Schrei eines Falken. Vom Südosten herbei gleitend zeigte sich der Schwarm der edlen Vögel, der stetig näher kam und bald schon mit den anderen am Ort des Allthings eintreffen würde. Die Götter und Soldaten des Wilden Heeres grüßten einander über das Land hinweg.
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