Hie und da begegnete er seinen alten Kunden, welche sobald sie ihn sahen ihren Krägen hochzogen oder ihren Hut tiefer zogen, so dass sie ihn nicht zu grüßen brauchten.
Aus einem respektablen Mann im Geschäftsleben einer kleinen Stadt war ein Niemand geworden.
Ein Niemand, den man nicht einmal mehr zu grüßen brauchte.
Ein Niemand.
Der Winter begann 1936 recht früh, die Tage wurden kürzer, die Nächte länger und auch kälter.
Meine Großeltern hatten keinen Heller mehr, seit ihr Geschäft an Herrn Braun übereignet wurde.
Schweren Herzens beschlossen Sie in diesem Winter ihr geliebtes Haus am Pfänder zu verkaufen, um sich am Rande der Stadt nach einer kleineren Wohnung umzusehen.
Als ich von diesem Entschluss gehört hatte, brach eine kleine Welt für mich zusammen.
Immerhin war ich in diesem Haus geboren und hatte auch dort einen großen Teil meines bisherigen Lebens verbracht.
An dieses Gespräch zwischen Mutter und mir kann ich mich noch heute gut erinnern. Vater war bei einer Parteitagung und Mutter erzählte mir was in Bregenz geschehen war.
Unter Tränen versuchte ich eine Lösung des Problems zu finden.
Wie ein kleines, in die Falle geratenes Tier versuchte ich verzweifelt mit meinen kleinen, bescheidenen und doch tatsächlich nicht vorhandenen Möglichkeiten meinen Großeltern zu helfen.
„Ich schicke Ihnen mein Taschengeld!“
„Ich gehe Arbeiten, jeden Tag und schicke das Geld Großvater!“
„Ich esse nichts mehr, schickt alles was ihr Euch wegen mir spart Großvater!“
Doch es half nichts.
Ich hatte keine Möglichkeit meinen Großeltern von München aus zu helfen, deshalb bat ich meine Mutter umgehen, oder zumindest an Weihnachten zu den Großeltern fahren zu dürfen, damit ich ihnen vor Ort helfen könne.
Wir könnten Ihnen ja auch Geld schicken oder Essen oder irgendetwas, wiederholte ich meine Vorschläge, immer und immer wieder.
Mutter hatte Tränen in den Augen.
Mit den Händen machte sie eine Geste, die mich wissen ließ, dass ich ihr näherkommen soll, dass ich sie in den Arm nehmen soll.
Und das tat ich dann auch.
Wir hielten uns eine kleine Ewigkeit in den Armen und weinten beide.
Aber Lösung fanden wir keine.
Später ging ich zu Bett.
Kurz vor Weihnachten erhielten wir ein Telegramm aus Bregenz.
Ich war ganz aufgebracht und wusste es konnte nur von Großvater sein.
Sicherlich hatte er seinen Laden zurückbekommen.
Sicherlich war Rosental wieder mit einer Lieferung Bier bei Ihm, denn es war ja Mitte Woche.
Ich war mir so sicher, dass Großvater genau dieses berichten wollte.
Ich nahm das Telegramm vom Postboten entgegen.
Es war verschlossen in einem kleinen Kuvert, welches ich freudestrahlend meiner Mutter übergab.
„Mutter, Mutter, Nachricht von Großvater!“ rief ich, als ich die Treppen zu unserer Wohnung hocheilte.
„Großvater geht es sicher wieder gut!“, kaum, dass ich die Treppen nicht nach oben stolperte, so aufgeregt war ich.
Mutter stand schon im Flur und nahm mir das Kuvert aus der Hand, dann ging sie damit ins Esszimmer, setzte sich auf einen Stuhl und öffnete es.
„Was schreibt er?“
„Wie geht es Ihnen?“
„Mutter, was schreiben sie denn?“
Im Gesicht meiner Mutter konnte ich sehen, dass es keine guten Nachrichten waren. Sie hatte das Telegramm lange in der Hand, und ich konnte durch das dünne Papier sehen, dass nicht viel darinstand.
„Mutter?“
Langsam, mit tief nach unten gezogenen Mundwinkeln und feuchten Augen nahm sie mich am Arm, zog mich sanft zu ihr.
Dann umarmten wir uns.
Noch immer wusste ich nicht was in dem Telegramm stand und langsam überkam mich ein kalter Schauer, gefolgt von Angst und dann von Zorn, dass sie mich so im Dunkeln ließ.
Ich befreite mich aus ihrer Umarmung und nahm das Telegramm.
„Müssen das Haus räumen – Stopp - Vater Grippe – Stopp – schwer krank – Stopp – Gestern verstorben – stopp“
Mehr stand da nicht.
Großvater war tot.
Das kann nicht sein.
Das darf nicht sein.
Ich warf das Telegramm auf den Tisch
Ich schrie meine Mutter an, welche meine Worte, derer ich mich nicht mehr erinnern möchte, nicht zu hören schien.
Dann stand sie auf, nahm ein Glas Wasser und trank daraus.
Ohne ein Wort zu sagen.
„Großvater ist tot!“ schrie ich auf sie ein.
„Tot!“, schrie ich immer und immer wieder.
„Und wir sind schuld! Du bist schuld!“
Mutter sagte noch immer kein Wort.
„Wir hätten bei Ihnen sein sollen, wir hätten ihnen helfen sollen! Und wir haben nichts getan, gar nichts!“
Ich musste mich setzten.
Mutter stand noch immer an der Küche, mit ihrem Wasserglas in der Hand und sagte kein Wort.
Dann, ich konnte es an ihrem Mund erkennen, schluckte sie erst den Schluck Wasser, den sie genommen hatte und kam auf mich zu um sich neben mich zu setzten.
„Es tut mir so leid.“ sagte sie leise.
„Es tut mir so leid, Jakob.“
Mehr sagte sie nicht.
In Ihrem Blick erkannte ich, dass sie meine Worte verletzte hatten und das tat mir nun leid.
Ich nahm sie in den Arm und wir weinten beide.
Wir weinten sicherlich eine Stunde, oder noch länger, ich hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren. Ohne ein Wort zu sagen.
Plötzlich sprang die Türe auf.
„Jetzt kommt Polen!“ schrie mein Vater, siegessicher, im Türrahmen mit hoch erhobenem Haupt und noch höher erhobener Faust.
Wortlos stand meine Mutter auf, keine Freude war auf ihrem Gesicht zu sehen, das erkannte auch Vater bald.
Das Telegramm in der Hand ging sie auf ihn zu, als dieser gerade die Türe hinter sich zuzog.
In ihren Augen konnte ich Zorn sehen.
Zorn, Verzweiflung und Wut.
Sie hielt dann doch einigen Abstand zu Vater und warf ihm das Telegramm vor die Füße. Dann drehte sie sich auf dem Fuße, ging langsam in ihr Zimmer und schloss die Türe hinter sich zu. Das mechanische Türschloss klackte bei der Umdrehung und wir wussten Beide, dass dies das Zeichen war, dass meine Mutter nun mit sich und ihrer Trauer alleine sein wollte.
Vater nahm das dünne Papier und las was darauf stand.
Sein Blick senkte sich und es schien als wisse er nicht was er sagen solle, denn er blickte, noch immer an derselben Stelle angewurzelt stehen, zuerst zu mir, dann zur Schlafzimmertüre, die verschlossen war.
Ich war entschlossen ihm in die Augen zu blicken, um seine Emotionen zu sehen, doch sein Blick war stets abgewandt. Kein Funkeln war zu sehen, keine Emotion, keine Regung.
Sein Blick blieb abgewandt und er wirkte niedergeschlagen.
Ich riss die Türe zum Hausflur auf, durch meine tränennassen Augen konnte ich kaum sehen wohin ich stolperte, fand dann aber gleich links neben mir das Treppengeländer, woran ich mich festhielt und den Hausflur nach unten rannte.
Unterwegs begegnete mir Herr Stoss, unser unfreundlicher Vermieter, welcher mir irgendwelche Beleidigungen auf dem Weg nach unten nachrief, da ich ihn nicht gegrüßt hatte, und noch viel schlimmer, da ich ihn beinahe überrannt hatte.
Ich beachtete ihn nicht und stürmte hinaus in die Nacht.
Es blies ein kalter Wind und der Himmel war dunkel.
Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehen. Doch auch, wenn es betriebsam gewesen wäre, so hätte ich dies vermutlich in diesen Stunden nicht bemerkt.
Meine Gedanken kreisten nur um Eines.
Nur um eine Person.
Großvater.
Er war immer für mich da gewesen.
Seine Weisheit und die Wärme meiner Großmutter hatten mir oft Mut gegeben.
Sie gaben mir den Willen durchzuhalten.
Sie gaben mir die Freude, die mir oft, wegen meiner instabilen Gesundheit genommen worden war.
Sie gaben mir Halt.
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