Dann war es still.
Am nächsten Tag fuhren wir mit der Eisenbahn wieder nach München.
Im Zug meinte Vater noch, wie froh er doch sei, dass wir bald wieder nach Hause kommen würden. Wie froh er sei, dass er dieses leidige liberale Geschwätz und die Schwarzmalerei seines Vaters nicht mehr hören könne, und dass es in München doch so viel besser sei.
Mutter meinte nur, dass es doch nett war, dass es schön sei, wenn man eine Familie habe und wenn man sich mit dieser verstehen würde.
Vater verdrehte die Augen.
Frühling 1934
Sommerjugendspiele in München.
Und ich war anwesend.
Ich nahm sogar teil, rechnete mir aber keine großen Chancen aus.
Mutter meinte, dass ich mich nicht überanstrengen solle, denn ich wisse doch, wie es um meine Gesundheit bestellt sei, außerdem sei Dabeisein doch alles.
Das baute mich auf.
Vater tat dies ab und meinte, dass der zweite Sieger bereits der erste Verlierer sei.
Er erwarte weitaus mehr von eigenen Blute!
Das schlug mich nieder.
Wie dem auch sei.
Der Sommer war schön, die Sonne schien herrlich an diesen Tagen, und es wurde sogar davon gesprochen, dass der Führer höchstpersönlich den Beginn der Spiele einleiten werde, was mich unter diesen Umständen, meinen Vater aber noch viel mehr, erfreute.
Ich war aufgeregt, erstmals in meinem Leben nahm ich an einem sportlichen Wettkampf teil und dann auch noch an einem so Großen.
Die Nächte vor dem 3. Juni 1934 konnte ich kaum schlafen, ich wandelte des Nachts durch unsere kleine Wohnung in der Leipzigerstrasse in Unterhaching bei München.
Unsere Wohnung war durchwegs sehr bescheiden, kaum zu vergleichen mit dem Haus am Pfänder meiner Großeltern, sie bestand kaum mehr als aus einem kleinen Raum, den wir als Esszimmer nutzten, einer kleinen Küchennische, einem kleinen Zimmer in dem meine Eltern schliefen und ein noch kleineres Zimmer, welches ich nutzte.
Durch die Enge unserer Wohnung war es mir des Nachts nicht möglich mich weit zu bewegen, doch es genügte mir um meinen Kopf frei zu bekommen, frei von Gedanken an meine, und da war ich mir sicher, bevorstehende Niederlage.
Die Spiele gingen vorüber, und ich hatte nicht gewonnen.
Um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht teilgenommen.
Auch wenn ich mich in den folgenden Jahren allzu gerne an einen ruhmreichen Tag erinnert hätte, so muss ich jedoch zugeben, dass ich an jenem Tag an einem heftigen Asthmaanfall litt.
Zum ersten Mal in meinem Leben.
Weitere würden jedoch folgen.
Vater war an diesem Morgen, als ich wegen meiner heftige Hustenanfälle immer wieder nach Luft ringen musste und sich Mutter schon Sorgen um mein Wohl und mein Leben machte, als sie meine bereits blau angelaufenen Lippen sah, so wütend, wie ich ihn noch zuvor nie erlebt hatte.
Er beschimpfte lauthals meine Mutter und ihr unreines Blut, ihre Herkunft und ihre lasche Art, denn nur von Ihrem „Gengut“ könne ein so miserabler, missratener und schwächlicher Junge abstammen, der sich gleich seiner Gram, seiner Angst und seiner Schande hinter einem lausigen Hustenanfall verstecken würde, um nicht bei den Spielen teilnehmen zu müssen.
Dergleichen sei eine Schande, die man niemandem erzählen dürfe.
Außerdem sei der Hustenanfall, und das würde jeder Arzt bestätigen, nur gespielt, damit ich mich nicht der Schande des Verlierers ergeben müsse. Es stünde eindeutig und ohne Widerrede fest, meinte er, dass wenn ich teilgenommen hätte, ich sicherlich der schlechteste von allein Teilnehmern gewesen wäre, schwache Mädchen eingeschlossen.
Sicherlich wäre ich eine Schande für Vaterland und Nation und nur weil ich das gewusst hätte, und mich eben dafür schon heute schämte, sei ich derart nahe dem Tode.
Was vermutlich sowieso besser für alle wäre.
Mit diesen Worten schmiss er die Türe hinter sich zu.
Mutter kochte mir einen Tee, den ihr Großmutter für mich mitgegeben hatte, dieser sei ein Geheimrezept ihrer Mutter, und diese hatte das Rezept wieder von Ihrer Mutter, usw. Er würde bei jeder Krankheit sofortige Linderung versprechen.
Mutter sollte aber Vater ja nichts davon sagen, so repetierte meine Mutter Großmutters Worte und lächelte dabei zart, denn sonst würde er sie gleich als Hexe beschimpfen und eben das wolle doch niemand.
Wochen vergingen und Vater hatte mich auf keine Veranstaltung mehr mitgenommen, da er sich wegen meiner Feigheit schämen würde, und um sich und letztlich auch mich vor dem Gespött der Parteigenossen zu schützen, da er diese auf keinen Fall ob meiner Feigheit und meinem vorgetäuschten Hustenanfall, oder was immer das wohl gewesen sein wolle, belügen werde.
Zumindest hatte er es mir so erklärt, als ich ihn fragte, ob ich ihn denn wieder begleiten dürfe.
Im Juni und auch noch im Juli dieses Jahres war mein Vater sehr aufgeregt.
Ich hatte ihn noch nie in einem solchen Delirium gesehen, und wenn ich heute darüber nachdenke, dann kam er mir mehr vor wie ein aufgeregtes Schulmädchen, welches über ihren ersten wirklichen Schwarm berichtete, als ein gestandener Mann, welcher sich über die politischen Ereignisse hätte unterhalten wollen.
Am 31. Juli standen die Reichtagswahlen an.
Hitler müsse nun endlich Gehör finden.
Die NSDAP werde diese Wahlen gewinnen, ein anderer Ausgang sei ja schon fast Blasphemie.
Vater sollte Recht behalten, Hitler gewann diese Wahl, wenn auch unter sehr fragwürdigen Umständen, wie meine Mutter mir im Geheimen erzählte. Vater dürfe von dieser Unterredung selbstverständlich nichts erfahren.
Vater war glücklich.
Und das war es, was für mich tatsächlich zählte.
Er nahm mich wieder mit auf Veranstaltungen.
Die Sommerspiele waren vergessen.
Und ich durfte meine Freunde bei der Hitlerjugend wieder besuchen.
Alles war nun gut.
Dachte ich!
Die Jahre vergingen, die Juden wurden in sogenannten Arbeitslagern untergebracht, damit sie unsere Wirtschaft nicht mehr schädigen würden.
Was wohl aus Herrn Rosental geworden war, hatte ich mich zu jener Zeit kurzfristig gefragt. Ob dieser wohl auch in einem Arbeitslager nun Bier für das Allgemeinwohl brauen würde und ob er meinen Großvater seit jenem Tag im April 1923 wieder besucht hatte.
Ich beließ meine Gedanken und fragte nicht weiter nach.
Herrn Rosental ging es bestimmt Bestens.
Nicht so meinem Großvater.
Im Sommer 1936 musste er seinen geliebten Laden schließen.
Die Fensterscheiben seines Krämerladens wurden von Nazischergen, wie meine Mutter sie nun nannte, beschmiert. Dann wurden sie eingeschmissen.
Das gesamte Inventar wurde entwendet.
Die Regale wurden umgeschmissen, die Wände wurden mit „Judenfreund“, „Verräter“ und reichlich anderen obszönen Gesten beschmiert.
Sicherlich von Juden selbst, wie mein Vater meinte, um die Schuld auf Andere zu lenken.
Denn Angriff sei immerhin die beste Verteidigung, das wisse nun jawohl jeder.
Mutter schüttelte nur den Kopf.
Tatsächlich sagte sie in den letzten Monaten und vielleicht sogar Jahren nicht mehr viel zu den politischen Vorstellungen und der beinahmen Besessenheit meines Vaters.
Herrn Braun, bei welchem wir fortan in Bregenz Kunden waren, seit dem Streit meiner Großeltern mit meinem Vater übernahm das Geschäft, ohne Ablöse, wie es hieß.
Die letzten Reste der Waren, welche noch vorhanden waren wurden Herrn Braun als Entschädigung überlassen, da das Geschäft neu aufgebaut hatte werden müssen.
Zudem musste Großvater auf das gesamte Eigentum des Geschäftslokals verzichten, welches er zuvor investiert hatte.
Außer Schulden war ihm nichts geblieben.
Von Trauer und Kummer gedrückt machte sich mein Großvater jeden Tag auf den Weg in die Stadt, er besuchte die Nepumukkapelle, den Kornmarktplatz und sein Weg führte ihn auch immer an seinem alten Krämerladen vorbei.
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